Das Herz meines Feindes
du?«
Lord Barton senkte den Blick und umfasste die Balustrade mit seinen fleischigen Händen. »Sir William of Dearne ist heute angekommen. Seine Frau ist bei ihm«, fügte er mit be sonderer Betonung hinzu.
Obwohl Lilliane bei seinen Worten erstarrte und sofort verstand, worauf er hinauswollte, weigerte sie sich, auf diese Bemerkung einzugehen. »Nun, ich hoffe aufrichtig, dass Odelia sie in einem bequemen Zimmer untergebracht hat.«
Ihr Vater betrachtete sie misstrauisch, und sie wusste, dass er sich von dem süßen Ton ihrer Worte keineswegs zum Narren halten ließ. Sie konnte nicht verleugnen, zumindest nicht sich selbst gegenüber, dass der Gedanke daran, William wiederzusehen, ihr Herz vor Vorfreude schneller schlagen ließ. Aber diese Tatsache würde sie vor ihrem Vater verber gen, und wenn es sie das Leben kostete.
»Ich habe immer noch die Hoffnung, dich mit einem Ehe mann zu versorgen.« Lord Barton sprach vorsichtig, als ob er sich ihrer Reaktion nicht sicher sei. Aber seine strahlend blauen Augen blickten voller Schläue drein, während er auf ihre Antwort wartete.
»Ich würde sogleich einwilligen«, gab sie zurück und hob mutig das wohlgerundete Kinn. »Aber ich würde nur einen Mann heiraten, den ich liebe… oder zumindest respektiere.«
»Würde ich denn einen anderen für dich auswä h len?« verlangte er zu wissen und machte eine wütende Handbe wegung. »Würde ich mein ältestes Kind und das Haus mei ner Vorfahren der Obhut eines Mannes ohne Ehre und Acht barkeit überlassen?«
»Aber ich dachte Aldis… oder vielleicht auch Santon. Nun ja, Odelia hat große Pläne für Orrick, wenn du…« Sie stockte vor Verlegenheit.
»Wenn ich sterbe?« Lord Barton lachte, und seine Züge wurden weich, als er ihr ins Gesicht sah. »Aldis versteht sich nicht auf die Verwaltung eines Gutes. Oh, seinen Männern ist er ein guter Anführer. Aber für ein Schloss mit seinen Län dereien und Unterg e benen zu sorgen, erfordert erheblich größere Fähigkeiten als trefflich mit der Keule oder dem Breitschwert umzugehen. Nein, seine Fähigkeiten in der Krieg s kunst werden ihm dabei nicht von Nutzen sein. Und was Santon anbelangt…« Er zuckte die Achseln und ließ die Augen zu der ausgelassenen Gesellschaft schweifen. »Santon ist gut für Tullia. Aber er könnte dieses Anwesen ebenso w enig versorgen, wie Tullia sich um das Schloss zu kümmern vermag. Du siehst also« – er warf ihr ein liebevolles Lächeln zu – »es hat sich eigentlich nichts geändert. Ich muss immer noch einen Mann für dich finden.«
Lilliane schwieg. Seit sie nach Orrick zurückg e kehrt war, hatte sie die Gesellschaft ihres Vaters nicht gesucht. Tatsäch lich hatte sie ihn sogar so gut es ging gemieden, obwohl es sie außerordentlich schmerzte, sich so zu verhalten. Sie liebte ihn innig, auch wenn seine Entscheidung, was William betraf, ihr das Herz gebrochen hatte. Seine aufrichtige Enthüllung überraschte sie zwar, aber sie war keineswegs verärgert, denn ihre Gedanken waren, was die Ehegatten ihrer Schwestern betraf, einem ähnlichen Pfad wie dem seinen gefolgt.
»Ich liebe Orrick«, gab sie mit leiser Stimme zu. Sie ließ ih re Hand langsam über die raue Steinmauer neben sich glei ten, als ob sie ein Haustier streichelte. »Ich habe es bitterlich vermisst.«
»Dann bleib hier.«
Er schien keine Antwort von ihr zu erwarten, und dafür war Lilliane sehr dankbar. Er nahm nur ihren Arm und führ te sie die breite Steintreppe hinunter, damit sie sich dem aus gelassenen Treiben anschließen und ihre Gäste zum Abend brottisch führen konnten.
Viele Augen folgten Vater und Tochter, während sie sich ihren Weg durch das Gedränge bahnten, Verwandte und Be kannte begrüßten, denn sie waren ein aufsehenerregendes Paar. Lilliane glich ihrem Vater auf vielerlei Weise, mit ihrer aufrechten Gestalt und selbstb e wussten Haltung. Obwohl sein Haar nun von breiten Silbersträhnen durchzogen war und seine Augen nicht mehr das durchdringende Blau seiner Jugendjahre hatten, fühlten sich jene, die Barton of Orrick in früheren Jahren gekannt hatten, durch Lilliane an ihn erin nert. Ihr Haar war von dem gleichen tiefen Kastanienbraun wie das seine und sprühte goldene Funken in dem Licht der zahlreichen Fackeln. Ihre breiten Wangenknochen und das energische Kinn waren aus dem gleichen Guss wie die seinen. Nur die Augen hatte sie von ihrer Mutter geerbt, eine seltene Mischung aus Grün und Gold, die ebenso vor Witz sprühen wie vor Zorn
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