Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz

Das Herz

Titel: Das Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
ihre Spitzen jeweils eine Wolke. Natürlich, es war Saqri, die eine Traumgestalt angenommen hatte — oder vielleicht erfuhr er ja gerade eine tiefe Wahrheit über sie, die ihm nur hier zugänglich war.
    »Lauf mit mir?«, rief der Schwan mit der sanften, melodischen Stimme der Königin. »Lauf! Ich folge dir.«
    Den Blick auf den wunderschönen weißen Vogel geheftet, trunken vor Entzücken, breitete er seine eigenen Flügel aus, um sich zu ihr hinzuschwingen, merkte aber im selben Moment, dass er gar kein geflügeltes Wesen war, sondern etwas mit Hufen, kräftigen Beinen und langen Schritten. Als er losstürmte, über die grünen Wiesen, schien da kaum ein Unterschied zwischen dem, was er tat, und dem, was er getan hätte, besäße er Flügel. Es war ein herrliches Gefühl der Freiheit — es fühlte sich
richtig an.
    »Wo sind wir hier?«, rief er.
    »Es ist keine Frage des ›Wo‹, es geht um etwas anderes ... das ›Wie‹ vielleicht ...«
    Es war ihm egal. Es genügte, einfach nur zu rennen, seine Mähne und seinen Schwanz im Wind fliegen zu fühlen, zum Trommeln seiner Erdklumpen schleudernden Hufe zu jubilieren.
    Sie segelte an ihm vorbei und begnügte sich für den Moment damit, nur ein kleines Stück vor ihm herzufliegen, sich seinem Tempo anzupassen, sodass sie mit ihren weiten Schwingen durch die Luft zu rudern schien, den speerlangen Hals gereckt. »Bist du müde, Kind?«, rief sie. »Möchtest du aufhören?«
    »Niemals?« Er lachte. »Ich könnte ewig so weitermachen.« Und ihm schien, als hätte er nie etwas Wahreres gesagt — es konnte nichts Himmlischeres geben, als ewig so weiterzurennen, gesund und stark und frei von allem.
    Aber was ist das hier?
Er kam ein wenig aus dem Rhythmus.
Wo bin ich? Ich war doch ... ich bin doch ...«
Er fühlte, wie sein kräftiger Körper von vier weit ausgreifenden Beinen über das Antlitz der Welt getragen wurde.
Aber ich bin doch kein Pferd ... Ich bin ein Mensch ...!
    Himmlisch. Ist das hier der Himmel? Heißt das, ich bin tot?
    Und plötzlich blieb er schaudernd stehen. Die Berge waren auf einmal so hoch und nah, der Himmel war dunkler, alles so dicht und bedrohlich. »Wo bin ich?«, sagte er wieder. »Was habt Ihr mir angetan?«
    Der Schwan schwenkte ab und flog einen Kreis. »Dir angetan? Das sind harte Worte, Barrick Eddon. Ich habe dich zurückgeholt, als ich dich hätte gehen lassen können. Ich habe dich zurückgeholt.«
    »Woher?«
    »Aus dem, was als Nächstes kommt.«
    »Ich war ... im Sterben?« Etwas Eisiges traf ihn im tiefsten Inneren. Selbst durch die fiebrige Erregung spürte er plötzlich, wie nah er dem Tod gewesen war.
    »Fürchte dich nicht davor. Es ist ein Weg, den wir alle eines Tages gehen müssen ... außer den Göttern natürlich.«
    »Was soll das heißen?« Er versuchte, an seinem sonderbaren Körper hinabzublicken, aber die Form seines Kopfes und Halses ließ es nicht zu. Es fühlte sich ungewohnt an — und gleichzeitig seltsam vertraut. »Ihr meint, alle sterben irgendwann? Aber
Ihr
nicht. Ihr und der König und all Eure Vorfahren ... Ihr sterbt doch nicht.«
    »Wir werden sehen. Wenn dich die Feuerblume dahin führt, unser Schicksal zu teilen, wirst du selbst beurteilen können, welche Art Unsterblichkeit uns unsere Gabe beschert.«
    Die riesige grüne Senke inmitten der Berge schien immer noch dunkler zu werden, als ob ein Unwetter heranzöge, aber tatsächlich hatte sich der locker bewölkte Himmel nicht verändert. »Und dieser Ort hier? Wenn ich nicht tot bin, ist es doch nicht der Himmel.«
    Der Schwan streckte den wunderschönen Hals. »Nein — obwohl Namen in diesen Landen bestenfalls lästig sind. Es ist ein anderer Ort. Einer, von dem ich nicht wissen konnte, ob du ihn durchqueren oder auch nur erreichen würdest, als du aus den Gefilden der Lebenden entschwunden bist — es gibt so vieles, was ich über dein Volk nicht weiß. Aber es war der einzige Ort, den ich für dich finden konnte, ehe es zu spät war, und der einzige Ort, wo ich stark genug sein konnte, dich festzuhalten, bis du dich selbst zu entscheiden vermochtest, ob du in die Welt zurückkehren wolltest oder nicht.«
    Plötzlich, als ob eine Tür aufginge und Licht hereinließe, fiel es ihm wieder ein. »Es waren die Stimmen ... all die ... die Dinge, die ich wusste. Die Feuerblume. Und es fühlte sich an, als ob ich mit jedem Augenblick mehr wüsste ...!« Er spürte, wie seine vier Beine unruhig wurden, sein ganzer Körper sich anspannte, um

Weitere Kostenlose Bücher