Horror Factory 05 - - Necroversum: Der Riss
1
Syriah
11. Februar, 11:55 Uhr
Und er sprach zu mir: »Sahet Ihr denn nicht die Gog und Magog, die an ihren Ketten zerren und auf den Tag warten, an dem der Antichrist seine Herrschaft antreten wird?«
Ich erschauerte, denn, ja, ich hatte sie gesehen, in den lichtlosen Kerkern, in die der Herr sie einst geworfen hatte. »Aber wer sollte sich ihnen in den Weg stellen?«, fragte ich. »Und woran sollten wir erkennen, dass es an der Zeit ist? «
– Aus den Prophezeiungen des Nicodemus von Brügge, 1444
»O Gott …«
Die Erkenntnis, dass in diesem Moment etwas Schreckliches passierte, traf sie wie ein Schlag.
Gleichzeitig durchzuckte ein sengender Schmerz ihren Körper. Beinahe hätte sie aufgeschrien, biss sich aber gerade noch rechtzeitig auf die Lippen. Sie war es gewohnt, sich keine Blöße zu geben, obwohl in der allgemeinen Begeisterung wahrscheinlich niemand ihren Aufschrei mitbekommen hätte.
Auf der Domplatte regierte ein verrückter Prinz Karneval und ließ die Massen seiner Anhänger wie ausgelassene Marionetten tanzen und singen.
Nicht dass es ihr etwas ausgemacht hätte. Sie liebte es, die Ekstasen der Menschen so hautnah zu erleben, ihre Gefühle zu spüren, ihre Leidenschaft und Gier, manchmal auch nur ihre Trunkenheit. Ihr selbst waren diese Emotionen nicht vergönnt. Umso mehr hatte sie das Bad in der Menge genossen.
Dabei hatte sie es von Anfang an geahnt: Etwas hatte sie hierhergetrieben. Im Schatten der mächtigen Türme würde sich heute noch irgendetwas ereignen, das nichts mit dem Rosenmontag zu tun hatte.
Jetzt übertünchte der Schmerz alle anderen Wahrnehmungen. Sie fasste sich an die Brust. An die rechte Seite. Dort, wo bei ihr das Herz schlug.
War dies das Ende?
Dann aber erkannte sie, dass es nichts mit ihr zu tun hatte. Sie war weder Auslöser noch Empfänger der Botschaft; sie bekam sie nur zufällig mit.
Also hatte sie noch eine Chance. Noch war es nicht zu spät.
Erleichtert ließ sie den Blick schweifen. Sie war umgeben von einer Mauer Grimassen schneidender, tanzender Narren. Ein Rotkäppchen mit verschmierten Wangen zwinkerte ihr zu, ein zotteliger Wolf schwang die Arme durch die Luft, ein Pirat küsste seiner Gefährtin, einer walkürenhaften Miss Piggy, auf die Schnauze.
Zunächst war sie höflich und bat darum, sie durchzulassen. Doch als die Mauer aus Leibern nicht weichen wollte, setzte sie die Ellenbogen ein. Der Ton wurde rauer. Ein Magier raunzte sie an. Eine Fee schrie ihr etwas entgegen. Ein Matrose fragte sie mit holländisch gefärbtem Akzent, ob sie einen Schlag in die Fresse wolle.
Hilfe suchend schaute sie zum Dom, der ihr zweifelhaften Schutz verhieß. Das riesige Gotteshaus erschien ihr mit einem Mal genauso weit entfernt wie seine in den Himmel ragenden Türme. Dabei waren es nur noch zwei Dutzend Meter bis zum Portal.
Doch die Stimmung war gekippt. Sie spürte, wie die Aggressivität um sie her wie eine Dornenhecke wuchs. Doch es war nicht ihre Schuld. Nicht sie hatte den Schalter betätigt.
Das, was den Schmerz entfacht hatte, der noch immer in ihrer Brust wütete, zündelte nun inmitten der Menschenmasse.
Sie stolperte über zwei Körper, die sich in verbissenem Zweikampf vor ihr auf dem Boden wanden. Neben ihr schlug ein verrückter Professor seiner Partnerin, einer engelhaften Erscheinung, grundlos ins Gesicht. Blut spritzte aus der Nase des Mädchens und benetzte das weiße Gewand mit rotem Regen.
Sie betrachtete es als Menetekel. Wieder krampfte ihr Herz sich zusammen. Diesmal ließ der Schmerz sie aufschreien.
Augenblicklich erregte sie damit die Aufmerksamkeit zweier betrunkener Gothic Girls.
»Hier geht’s nicht weiter, Lady!«, drohte die eine, hob ihr Stachelarmband und stieß es ihr gegen die Stirn. Die zugespitzten Stachelnieten drangen in ihr Fleisch. Schwarzes Blut tropfte ihr von der Stirn ins Gesicht und rann ihr in den Mund, sodass ihr der metallene Geschmack auf der Zunge lag. Mit einer Handbewegung wischte sie das Blut ab, wodurch sie noch erschreckender aussah als zuvor.
»Was ’n das für ’ne Nummer?«, fragte eines der Gothic Girls. Sie war klein und mager und starrte ungläubig auf die schwarzen Blutperlen. Wahrscheinlich war ihr Gesicht unter ihrer weißen Schminke ebenfalls weiß geworden.
»Macht die Tussi Ärger?«, mischte sich ein vierschrötiger Indianer ein, der sie um eine Kopflänge überragte. Ehe sie antworten konnte, rammte er ihr die Faust in den Bauch.
Doch diesmal war sie gewappnet.
Die Faust
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