Das Hexenbuch von Salem
straffte den Rücken vor der harten Stuhllehne und lächelte.
»Natürlich«, begann Connie und schob den letzten Rest Nervosität beiseite, »wäre es sehr verführerisch, eine Abhandlung des Themas Hexerei in Neuengland mit dem Hexenwahn von Salem im Jahre I692 zu beginnen, als neunzehn Bewohner der Stadt zum Tode durch den Strang verurteilt wurden. Ein sorgfältiger Historiker jedoch wird diesen Wahn als Anomalie erkennen und sich stattdessen lieber der relativ weiten Verbreitung der Hexerei in der kolonialen Gesellschaft zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts zuwenden.« Connie schaute in die vier nickenden Gesichter rund um den Tisch und beschloss, die Struktur ihrer Antwort nach den jeweiligen zu erwartenden Reaktionen auszurichten.
»Die meisten Fälle von Hexerei kamen eher sporadisch vor«, fuhr sie fort. »Die durchschnittliche Hexe war eine Frau mittleren Alters, die in ihrer Gemeinde isoliert war, sei es aus wirtschaftlichen Gründen oder mangels einer Familie, weshalb ihr sowohl gesellschaftliche als auch politische Macht fehlten. Interessanterweise zeigt uns eine nähere Beschäftigung
mit dem maleficium « – hier verhedderte sich ihre Zunge an dem lateinischen Wort, verlängerte es um ein oder zwei überflüssige Silben, und sie verfluchte sich insgeheim dafür, dass sie sich zur Anmaßung hatte verführen lassen – »dem Schadenszauber also, dessen man die Hexen gewöhnlich bezichtigte, wie eng die Welt in den britischen Kolonien damals für den Durchschnittsmenschen war. Während ein moderner Mensch von der Annahme ausgehen würde, jemand, der die Naturgesetze unter Kontrolle hat, der die Zeit anhalten oder die Zukunft voraussehen kann, würde diese Fähigkeiten dafür nutzen, dramatische Veränderungen auf höherer gesellschaftlicher Ebene herbeizuführen, gab man in den Kolonien den Hexen meist die Schuld an wesentlich banaleren Katastrophen, so zum Beispiel, dass Kühe erkrankten oder die Milch sauer wurde, oder dass jemand persönliches Eigentum verloren hatte. Diese eher mikrokosmische Einflusssphäre ergibt jedoch mehr Sinn, wenn man sie im Zusammenhang mit dem Volksglauben der frühen Kolonialzeit betrachtet, einem Glauben, in dem man das Individuum als vollkommen hilflos gegenüber der Allmacht Gottes betrachtete.« Connie holte tief Luft. Sie sehnte sich danach, sich zu strecken, verkniff es sich jedoch. Noch nicht.
»Außerdem«, fuhr sie fort, »waren die Puritaner der Ansicht, nichts im Verhalten eines Menschen könne als zuverlässiges Indiz dafür gelten, ob seine Seele erlöst werde oder nicht – gute Taten allein waren nicht ausschlaggebend. Negative Ereignisse wie schwere Krankheit oder wirtschaftliche Rückschläge wurden deshalb oft als Zeichen der Missbilligung Gottes interpretiert. Da zogen es die meisten Menschen vor, dafür Hexerei verantwortlich zu machen – also eine Erklärung, die sich ihrer Kontrolle entzog und durch eine Frau am Rande der Gesellschaft verkörpert wurde -, als die Möglichkeit eines eigenen spirituellen Risikos in Betracht
zu ziehen. Folge war, dass die Hexerei eine bedeutende Rolle in den neuenglischen Kolonien spielte – sowohl als Erklärung für Dinge, die noch nicht durch die Wissenschaft erhellt worden waren, als auch als Sündenbock.«
»Und der Hexenwahn von Salem?«, hakte Professorin Silva nach.
»Die Hexenprozesse von Salem sind in vielfältiger Weise erklärt worden«, antwortete Connie. »Einige Historiker argumentierten, die Prozesse seien durch Spannungen zwischen konkurrierenden Religionsgemeinschaften in Salem entstanden, einerseits der eher urbanen Hafenstadt und andererseits den ländlich-bäuerlichen Regionen ringsum. Andere haben auf uralten Neid zwischen verschiedenen Familien und Parteiungen hingewiesen und dabei besonders auf die finanziellen Ansprüche eines unbeliebten Priesters namens Reverend Samuel Parris abgehoben. Wieder andere Historiker haben sogar behauptet, die besessenen Mädchen hätten ihre Halluzinationen nach dem Genuss von schimmligem Brot gehabt, welches ähnliche Auswirkungen haben kann wie der Genuss von LSD. Doch ich sehe das Ganze eher als letzten Aufschrei calvinistischer Religiosität. Im frühen achtzehnten Jahrhundert hatte sich Salem von einer primär religiösen Gemeinschaft zu einer vielseitigen kleinen Stadt entwickelt, die sich mehr auf den Schiffsbau, die Fischerei und den Handel stützte als auf Ackerbau und Viehzucht. Die protestantischen Eiferer, welche die Gegend ursprünglich besiedelt
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