Das Imperium der Woelfe
Bier nach München zu tragen.«
Anna fand ihn ebenso vulgär wie beunruhigend. Und doch hatte er etwas Unwiderstehliches an sich, eine animalische Macht ging von ihm aus, etwas intensiv »Bullenhaftes«. Man konnte ihn sich nur zu gut in einem schlecht beleuchteten Büro vorstellen, wie er Verdächtigen Geständnisse entriss, oder beim Einsatz, wo er Männer mit Sturmgewehren kommandierte.
Laurent hatte ihr verraten, dass Charlier im Verlauf seiner Karriere wenigstens fünf Menschen kaltblütig erschossen hatte. Sein Arbeitsgebiet war der Terrorismus, ob beim DST, DGSE oder DNAT, immer hatte er denselben Krieg geführt. Fünfundzwanzig Jahre Geheimoperationen und Gewalteinsätze. Wenn Anna nach Details fragte, fegte er die Antwort mit einer Geste vom Tisch. »Das wäre sowieso nur die Spitze eines Eisbergs.«
An jenem Abend fand das Abendessen bei ihm statt, in der Avenue de Breteuil, einer der zahlreichen von Baron Haussmann gebauten Wohnungen. Sie verfügte über einen polierten Parkettboden, und in jeder winzigsten Ecke standen Objekte, die aus den Kolonien stammen mussten: Aus Neugier hatte Anna sich in den Räumen umgesehen, doch konnte sie keinerlei Anzeichen für die Anwesenheit einer Frau erkennen; Charlier war eingefleischter Junggeselle.
Es war gegen dreiundzwanzig Uhr, die Gäste saßen - gemütlich zurückgelehnt wie am Ende einer Mahlzeit - eingehüllt in den Rauch ihrer Zigarren und überboten sich in jenem März des Jahres 2002, wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen, mit Vorhersagen und Vermutungen. Man stellte sich vor, welche Veränderungen es im Innenministerium geben würde, je nach Ausgang der Wahlen. Sie schienen alle bereit, einen noch besseren Kampf zu führen, waren sich allerdings nicht sicher, ob sie daran teilnehmen würden.
Philippe Charlier, Annas Tischnachbar, flüsterte ihr vertraulich ins Ohr: »Die gehen mir auf die Eier mit ihren Bullenstorys. Kennst du den Witz von dem Schweizer?«
Anna lächelte: »Du hast ihn mir schon letzten Samstag erzählt.«
»Und den von der Portugiesin?«
»Nein.«
Charlier stützte die Ellbogen auf dem Tisch auf: »Eine Portugiesin - Sonnenbrille justiert, Knie durchgebogen, Stöcke in den Achselhöhlen - macht sich bereit, eine Skipiste in Angriff zu nehmen. Ein Skifahrer schließt zu ihr auf und fragt mit breitem Grinsen: >Schuss? Volles Rohr?<
>Bloß nichts< antwortet die Portugiesin, >meine Lippen sind viel zu empfindliche«
Es dauerte eine Sekunde, bis sie begriffen hatte und ein schallendes Lachen ausstieß. Die Witze des Polizisten spielten sich immer nur unterhalb der Gürtellinie ab, dafür hatten sie den Vorzug, stets taufrisch daherzukommen. Anna lachte noch immer, als sich das Gesicht von Charlier zu verzerren begann: Mit einem Mal verflüchtigten sich seine Gesichtszüge und umkreisten, im wahrsten Sinne des Wortes, seine Gestalt.
Anna richtete ihre Augen auf die anderen Gäste. Auch ihre Züge zitterten und verzerrten sich, um kurz darauf in einer Welle unterschiedlichster Gesichtsausdrücke über sie hereinzubrechen: entstellte Hautfetzen, starre Fratzen, grausame Schreie ...
Sie zuckte zusammen und begann heftig durch den Mund zu atmen.
»Ist dir nicht gut?«, fragte Charlier beunruhigt.
»Mir... mir ist warm. Ich gehe mich frisch machen.«
»Soll ich dir zeigen, wo?«
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Es geht schon, ich finde es alleine.«
Sie ging an der Wand entlang, hielt sich am Kaminsims fest und stieß gegen einen Teewagen, der ein klirrendes Geräusch von sich gab ...
Auf der Türschwelle riskierte sie einen Blick in den Raum, doch das Meer der Masken bewegte sich noch immer. Ein Kommen und Gehen von Schreien und Falten, die zusammenschmolzen, zerrissene Haut, die hervorsprang und sie verfolgte. Als sie die Tür hinter sich ließ, konnte Anna ihre Tränen nur mit Mühe zurückhalten.
Die Diele war nicht erleuchtet, nur durch die offenen Türen fielen Lichtstreifen in die Dunkelheit. Die an der Garderobe hängenden Mäntel nahmen bedrohliche Formen an. Anna blieb vor einem goldgerahmten Spiegel stehen und musterte aufmerksam ihr Gesicht: eine Haut wie Pergamentpapier und eine Blässe, so kalt leuchtend wie ein Gespenst.
Sie umfasste ihre Schultern, die unter dem schwarzen Wollpullover zitterten, als plötzlich hinter ihr ein Mann auftauchte. Sie kannte ihn nicht; er war nicht beim Essen gewesen. Sie drehte ihren Kopf, um ihn anzusehen. Wer ist das? Woher kommt er? Er sieht bedrohlich
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