Das Imperium der Woelfe
ihren Spuren und erfreute sich an der Kühnheit ihrer Taten...
Bald war Sema bei den Grauen Wölfen zur Legende geworden. Sie bewegte sich in einem Labyrinth von Grenz- und Sprachlinien. Gerüchte kursierten. Manche sagten, sie habe sich, mit einem Schleier verhüllt, an der afghanischen Grenze herumgetrieben. Andere gaben vor, in einem geheimen Labor an der syrischen Grenze mit ihr gesprochen zu haben, dabei habe sie eine Maske getragen. Wieder andere schworen, mit ihr an der Küste des Schwarzen Meeres verhandelt zu haben, in einem Nachtklub, in dessen Stroboskoplicht sie bruchstückhaft zu erkennen gewesen war.
Kudseyi wusste, dass sie alle logen. Niemand hatte Sema je gesehen. Jedenfalls nicht die echte. Sie war zu einem abstrakten Wesen geworden, das je nach Ziel die Identität, den Weg, ihren Stil und ihre Methode änderte. Ein Wesen, das in ständiger Bewegung war und sich nur in den Drogen verkörperte, die sie vertrieb.
Sema konnte es nicht wissen, aber in Wahrheit war sie nie allein. Der Alte war immer an ihrer Seite, und nie hatte sie eine Lieferung verschickt, die nicht dem Baba gehörte. Nie hatte sie einen Transport weitergeleitet, bei dem sie seine Männer nicht aus der Ferne beobachteten. Kudseyi befand sich gewissermaßen in ihr.
Ohne ihr Wissen hatte er sie während eines Krankenhausaufenthaltes sterilisieren lassen, 1987, als sie an einer akuten Blinddarmentzündung litt. Eine Tubenligatur, eine nicht wieder gutzumachende Verstümmelung, die aber den Hormonkreislauf nicht berührte. Die Ärzte hatten mit mini-invasiver Laparaskopie operiert, ohne eine Spur oder Narbe zu hinterlassen ...
Kudseyi hatte keine Wahl gehabt. Seine Krieger waren einzigartig, sie durften sich nicht fortpflanzen. Allein Kudseyi durfte seine Soldaten erschaffen, entwickeln oder töten. Trotz dieser Überzeugung dachte er immer wieder angstvoll an diese Verstümmelung, es war so etwas wie ein heiliger Schauer, als habe er ein Tabu verletzt oder verbotenes Terrain betreten. Oft sah er im Traum, wie weiße Hände Eingeweide hielten. Er spürte, dass die Katastrophe von diesem organischen Geheimnis herbeigeführt werden könnte.
Heute hatte Kudseyi angesichts seiner beiden Kinder seine Niederlagen eingestanden. Azer Akarsa war zu einem mordenden Psychopathen geworden, der eine autonome Aktivistenzelle leitete - Terroristen, die ihr Gesicht maskierten, sich für Ur-Türken hielten, Attentate gegen den Staat und die Grauen Wölfe verübten und dabei die Sache verraten hatten. Kudseyi stand vielleicht sogar selbst auf ihrer Liste. Und Sema war unsichtbarer denn je, eine Kundschafterin mit paranoider Schizophrenie, die nur auf die Gelegenheit wartete, für immer zu fliehen.
Die beiden Kreaturen, die er erschaffen hatte, waren Monster: zwei wild gewordene Wölfe, die ihm an die Kehle springen wollten. Und dennoch hatte er ihnen weiterhin wichtige Missionen anvertraut, in der Hoffnung, dass sie einen Clan, der ihnen so viel Vertrauen entgegengebracht hatte, nicht verraten würden.
Vor allem hoffte er, das Schicksal würde es nicht wagen, ihn einem solchen Angriff, einer solchen Verleugnung auszuliefern, ihn, der so viel in dieses Werk investiert hatte. Aus diesem Grund hatte er im vergangenen Frühjahr, als es darum ging, eine Lieferung zu organisieren, die über eine historische Allianz am Goldenen Horn entschied, nur einen Namen genannt: Sema.
Und deshalb hatte er, als das Unvermeidliche geschah und die Verräterin mit den Drogen verschwunden war, nur einen Mörder auserkoren: Azer.
Er hatte sich nicht dafür entschieden, sie zu eliminieren, sondern sie aufeinander losgelassen und gebetet, dass sie sich gegenseitig vernichten würden. Aber nichts war geschehen wie vorgesehen. Sema blieb unauffindbar, und Azer hatte in Paris eine Reihe von Massakern verübt. Er wurde mit internationalem Haftbefehl gesucht, und das Verbrecherkartell von Kudseyi hatte bereits das Todesurteil gesprochen - Azer war zu gefährlich geworden.
Und dann hatte ein neues Ereignis alles über den Haufen geworfen, denn Sema war wieder aufgetaucht. Sie verlangte ein Treffen, schon wieder hielt sie sämtliche Fäden in der Hand...
Er betrachtete sein Gesicht ein letztes Mal im Spiegel, und plötzlich sah er einen anderen Mann, sah einen Greis mit ausgebranntem Gerippe, mit Knochen so spitz wie Messerklingen. Er steckte den Kamm in die Hosentasche und versuchte, seinem Spiegelbild zuzulächeln, doch ihn verfolgte das Gefühl, einen Totenkopf mit leeren
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