Das Imperium der Woelfe
Falten ihrer Regenpelerine winzig klein gegen ihn. Er wusste, dass sie sich ein neues Gesicht zugelegt hatte. Doch selbst aus dieser Entfernung erkannte er ihre Bewegungen, erkannte diese gespielte Tapferkeit, mit der sie ihm vor zwanzig Jahren unter Hunderten von Kindern aufgefallen war.
Azer und Sema. Der Mörder und die Diebin.
Seine einzigen Kinder. Seine einzigen Feinde.
Kapitel 74
Als er sich auf den Weg machte, kam Leben in die Gärten. Ein erster Leibwächter drang aus dem Gebüsch hervor, ein zweiter erschien hinter einer Linde. Zwei andere standen plötzlich auf dem Kiesweg. Sie alle waren mit einer MP-7 ausgerüstet, einer Nahkampfwaffe mit schallgedämpften Läufen, die Titan- oder Kevlar-Schutzwesten aus einer Entfernung von fünfzig Metern durchdringen konnte - nach der Aussage seines Waffenmeisters. Aber hatte all das überhaupt einen Sinn? In seinem Alter bewegten sich die Feinde nicht mehr mit Schallgeschwindigkeit und durchdrangen nicht das Polykarbon. Sie steckten in seinem Inneren und gaben sich einer geduldigen Zerstörungsarbeit hin.
Als er die Allee entlangschritt, scharten sich die Männer sogleich um ihn und bildeten einen menschlichen Schutzwall. Sein Leben war ein geschütztes Kleinod, doch es hatte keine Leuchtkraft mehr. Er ging umher wie lebendig eingemauert, verließ nie seinen Garten, war ausschließlich von Männern umgeben.
Er ging auf den Palast zu, eines der letzten Yalis von Yeniköy. Ein Gebäude aus Holz, dicht am Wasser gebaut, auf geteerten Pfeilern errichtet. Ein Palast mit Türmchen, der streng wie eine Zitadelle und zugleich einfach wie eine Fischerhütte wirkte.
Die Dachziegel, durch die Zeit ein wenig abgenutzt, warfen - wie Spiegel - starke Lichtreflexe zurück. Die Fassaden hingegen verschluckten das Licht, sie ließen hie und da ein kurzes düsteres Aufleuchten erkennen - und verstrahlten doch eine unendliche Anmut. Pontonbrücke, Landungssteg: Um diese Gebäude herrschte eine Atmosphäre des Übergangs; die maritime Umgebung, das abgenutzte Holz und das Plätschern des Wassers weckten im Inneren des alten Mannes Erinnerungen an Abfahrtsorte und Sommerfrischen.
Und doch, sobald er näher an das Gebäude trat und die orientalischen Details der Fassaden betrachtete, sobald er die feinen Gitter der Terrassen, die Sonnen an den Baikonen und die Mondsicheln an den Fenstern betrachtete, wurde ihm klar, dass der raffinierte Palast das genaue Gegenteil seines eigenen äußeren Anscheins verkörperte. Er war zwar über und über mit Ornamenten versehen, doch ein solides und auf Dauer gebautes Bauwerk. Das Grab, das er für sich ausgewählt hatte. Ein Grabmal aus Holz, umgeben von den Geräuschen der Meerestiere, in dem man den Tod herannahen sah, während man den Fluss hörte...
In der Halle zog Ismail Kudseyi seinen Regenmantel und die Stiefel aus. Er schlüpfte in Filzpantoffeln und in eine indische Seidenweste und betrachtete sich längere Zeit im Spiegel. Sein Gesicht war das Einzige, worauf er stolz sein konnte.
Zwar hatte die Zeit unübersehbar ihre Spuren hinterlassen, doch die Knochen unter der Haut wirkten nach wie vor markant. Seine Haut war gespannt, seine Züge waren scharf. Mehr denn je hatte er das Profil eines Hirschs mit hervorspringenden Kiefern und herablassendem Ausdruck um den Mund.
Er zog einen Kamm aus der Tasche und kämmte sich. Langsam glättete er die grauen Haarsträhnen, doch plötzlich hielt er inne, weil er die Bedeutung der Geste begriff. Er machte sich schön - für die beiden. Weil er sich davor fürchtete, ihnen zu begegnen. Weil er Angst hatte, sich mit dem tieferen Sinn all jener Jahre auseinander zu setzen ...
Nach dem Staatsstreich des Jahres 1980 hatte er nach Deutschland ins Exil gehen müssen. Als er 1983 in die Türkei zurückkehrte, hatte sich die Lage beruhigt, doch die meisten seiner Waffenbrüder, die anderen Grauen Wölfe, saßen im Gefängnis. Ismail Kudeyi war isoliert, allein die große Sache wollte er nicht aufgeben. Im Gegenteil, er beschloss, unter größter Geheimhaltung wieder Trainingslager zu eröffnen und seine eigene Armee zu gründen. Er wollte neue Graue Wölfe zum Leben erwecken. Besondere Wölfe, die zugleich seinen politischen Ideen wie seinen kriminellen Ambitionen dienen sollten.
Er fuhr nach Anatolien, um dort persönlich die Schüler für seine Stiftung auszusuchen. Er hatte Lager eingerichtet, Jugendliche beim Training beobachtet und Kriterien festgelegt, um aus ihrer Mitte eine
Weitere Kostenlose Bücher