Das Imperium der Woelfe
Augenhöhlen zu grüßen. Dann ging er auf die Treppe zu und wies seine Bewacher an: »Geldiler. Berti yalniz birakin. Sie sind da, lasst mich allein.«
Kapitel 75
Das Zimmer, das er seinen Meditationsraum nannte, maß einhundertzwanzig Quadratmeter und war mit einem Massivholzparkett ausgelegt. Er hätte es auch Thronsaal nennen können. Auf einem Podest, zu dem drei Stufen hinaufführten, stand ein langes, eierschalenfarbenes Sofa mit goldbestickten Kissen, ihm gegenüber ein niedriger Tisch. Auf beiden Seiten warfen in regelmäßigen Abständen Lampen gedämpfte Lichtbögen auf die weißen Wände. Holztruhen mit Einlegearbeiten waren an der Wand aneinander gereiht wie dunkle Schatten: hinter Perlmutt verborgene Geheimnisse. Sonst nichts.
Kudseyi liebte diese Nüchternheit, diese fast mystische Leere, die bereit schien, den Gebeten eines Sufi zu lauschen. Er durchquerte den Saal, stieg die Stufen hinauf und näherte sich dem niedrigen Tisch. Dann legte er seinen Stock zur Seite und nahm die Karaffe mit Ayran zur Hand, ein Getränk aus Jogurt und Wasser, das stets bereitstand. Er goss sich ein Glas ein, trank es mit einem Zug aus, genoss die Frische, die seinen Körper erfüllte, und bewunderte seinen Schatz.
Ismail Kudseyi besaß die schönste Kelim-Sammlung der Türkei, und das Prachtstück wurde in diesem Raum aufbewahrt. Es hing über dem Sofa. Dieser alte Teppich maß nur etwa einen Quadratmeter, er war eher klein, dafür flammte sein dunkles Rot, das von einem gold- und weizengelben Rand eingefasst war, umso intensiver. In der Mitte zeichnete sich ein schwarzblaues Rechteck ab, die heilige Farbe, die Himmel und Unendlichkeit bedeutet. Im Inneren prangte ein großes, mit Widderhörnern verziertes Kreuz, das Symbol der Männlichkeit und des Krieges. Darüber spreizte ein Adler sein Gefieder zum Schutz des Kreuzes in der Form einer Krone, und auf dem gemusterten Rand zeichnete sich der Baum des Lebens ab, ferner die Herbstzeitlose, die Blume der Freude und des Glücks, und die Haschischpflanze, Zaubergewächs, das den ewigen Schlaf spendet...
Kudseyi hätte dieses Meisterwerk stundenlang betrachten können. Seine ganze Welt aus Krieg, Drogen und Macht schien ihm darin verborgen. Er mochte auch das Geheimnis, das in Filigran eingewoben war, dieses Geheimnis aus Wolle, das ihn noch immer umtrieb; und ein weiteres Mal stellte er sich die Frage: Wo ist das Dreieck? Wo ist das Glück?
Zunächst bewunderte er ihre Verwandlung, denn das wohlgenährte junge Mädchen war zu einer zierlichen Frau geworden, ganz wie die modernen jungen Mädchen mit kleiner Brust und schmalen Hüften. Sie trug einen schwarzen Steppmantel, eine gerade geschnittene Hose in derselben Farbe und Stiefeletten mit viereckiger Spitze. Eine echte Pariserin.
Vor allem aber faszinierte ihn die Veränderung ihres Gesichts. Wie viele Eingriffe, wie viele offene Wunden waren notwendig gewesen, um zu so einem Ergebnis zu kommen? Aus diesem unkenntlichen Gesicht sprach der Wille zu fliehen - seinem Joch zu entkommen. Dies las er in den indigoblauen Augen, in jenem verschatteten Blau, das unter den halb geschlossenen Lidern kaum zu erkennen war und ihn abwies wie einen Eindringling. Ja, in diesen veränderten Zügen, in diesen Augen sah er die ursprüngliche Härte seines Nomadenvolkes - eine wilde Energie, geboren im Wind der Wüste unter brennender Sonne.
Plötzlich fühlte er sich alt, am Ende. Eine verbrannte Mumie mit Lippen aus Staub. Er saß auf dem Sofa und ließ sie näher kommen. Sie war gründlich durchsucht worden. Man hatte ihre Kleider abgetastet und analysiert, ihren Körper geröntgt. Zwei Leibwächter standen nun dicht bei ihr, die MP-7 im Anschlag, erhöhte Sicherheitsstufe, die Kugel im Lauf. Azer blieb im Hintergrund. Auch er bewaffnet.
Doch Kudseyi verspürte eine vage Angst. Sein Kriegerinstinkt sagte ihm, dass diese Frau trotz ihrer scheinbaren Verletzlichkeit gefährlich geblieben war, und ihm wurde leicht übel bei dem Gedanken. Was hatte sie im Sinn? Warum lieferte sie sich ihm so aus?
Sie betrachtete den hinter ihm an der Wand hängenden Kelim. Er beschloss, Französisch zu sprechen, um ihrer Begegnung einen feierlichen Charakter zu verleihen.
»Einer der ältesten Teppiche der Welt. Russische Archäologen haben ihn in einem Eisblock gefunden, an der Grenze zwischen der Mongolei und Sibirien. Er ist vermutlich fast zweitausend Jahre alt und gehörte wahrscheinlich einem Hunnen. Das Kreuz. Der Adler. Die
Weitere Kostenlose Bücher