Das Inferno Roman
puterrot angelaufen.
»Wovon redest du?«, platzte es aus ihm heraus.
»Als ob du das nicht wüsstest. Von wem willst du deine schmutzigen Bilder machen? Von mir?«
»Nein!«, schrie er.
Dann konnte er nur noch zusehen, wie Mutter die Sofortbildkamera Richtung Kamin schleuderte, wo sie an den Steinen zerbrach. Plastikstücke und Glas spritzten wie Schrapnells durch die Luft. Die Reste der zerstörten Kamera krachten nach kurzem Flug auf die Kamineinfassung.
»Das lasse ich nicht zu«, informierte sie ihn. »Nicht in meinem Haus. Nicht jetzt. Niemals. Ich schäme mich für dich.«
Im Gedenken an das Schicksal seiner Polaroid entfuhr Stanley ein Seufzer.
Ich bin so ein Feigling, dachte er.
Ich hätte mir am nächsten Tag eine neue Kamera kaufen können. Ich könnte mir heute eine kaufen.
Was Mutter nicht weiß, macht sie nicht heiß.
Aber wenn sie mich erwischt …
Wenn sie mich erwischt.
Stanley wünschte, er hätte den Mumm, den kleinen Refrain zu ignorieren. Wenn sie mich erwischt. Oh, was er schon alles getan hätte, wenn das nicht so wäre. Was er alles hätte erleben können. Die ganzen großen Möglichkeiten …
Er war zweiunddreißig Jahre alt und schien sein ganzes Leben verpasst zu haben.
Er hatte es verpasst, weil es immer eine Frau gab, die über ihn wachte wie eine Gefängniswärterin. Erst war es Mutter gewesen, dann seine Frau Thelma und nun wieder Mutter.
Ich hätte nicht hier einziehen dürfen, sagte er sich. Das war so was von dämlich.
Mutter hatte ihn nach Thelmas Tod angebettelt, zu ihr zu ziehen. So schlecht erschien ihm die Idee damals nicht. Zum einen besaß Mutter ein gewisses Maß an Wohlstand und ein kleines Stuckhaus, das fast 400 000 Dollar wert war. Zum anderen hatte Stanley mit Thelma auch seinen Job verloren.
Thelma war die einzige Frau gewesen, die sich je etwas aus ihm gemacht hatte. Deshalb hatte er sie trotz ihres Alters, ihres Gewichts und ihres Gesichts zwei Wochen nach seinem High-School-Abschluss geheiratet. Zu der Zeit war sie bereits eine einigermaßen erfolgreiche Kinderbuchautorin gewesen und verdiente genug Geld für zwei. Ohne eigenen Jobzwang hatte Stanley begonnen, für seine Frau zu arbeiten: Er beantwortete ihre Fanpost, fotokopierte und versandte ihre Manuskripte und so weiter. Er war so etwas wie ihr Sekretär - und noch nicht mal ein besonders guter.
Mit Thelmas Tod waren Stanleys Aussichten auf einen halbwegs anständigen Job in weite Ferne gerückt. Dass er von ihren Tantiemen leben konnte, war höchst zweifelhaft.
Deshalb hatte er sich bereiterklärt, zu seiner Mutter zu ziehen.
Und damit seine Chance auf ein Leben in Freiheit verpasst.
Er war wie ein Gefangener, dessen Wächter im Dienst tot umgefallen war und die Zelle offen gelassen hatte. Er hätte fliehen können. Es hätte nur eines Quäntchens Mumm bedurft. Stattdessen hatte er wie ein vorbildlicher Häftling darauf gewartet, dass ein neuer Bewacher auftaucht.
Aber man hat eine tolle Aussicht von dieser Zelle, sagte er sich und grinste.
Sheila.
Sonst hätte ich sie nie zu Gesicht bekommen.
Stanley warf einen Blick auf seine Uhr.
Sechzehn Minuten nach acht.
Sheila musste jetzt schon seit längerer Zeit wieder zu Hause sein. Bei all den Gedanken, die ihm im Kopf herumspukten, hatte er es verpasst, ihren Tagesablauf in seiner Fantasie nachzuverfolgen.
Er überlegte sich, so zu tun, als ob er nichts verpasst hätte. Das hatte er schon öfter getan, aber es war nicht das Gleiche. Der Kick lag darin, sie sich im gleichen Moment vorzustellen, in dem sie diese Dinge tat: ihr Lauftraining beenden, den Hausschlüssel herausholen …
Wo hatte sie ihn nur an diesem Morgen aufbewahrt? Vielleicht in eine Socke gesteckt? Das war ihr zu gewöhnlich. Nein, vielleicht in den Bund ihres Höschens geschoben?
Vielleicht hatte sie ihn sicher im Körbchen ihres BHs untergebracht, wo er einen Abdruck auf einer Brust hinterließ. Es gab so viele Orte, an denen der Schlüssel sein konnte, ein warmes Geheimnis, das sich an ihre Haut schmiegte. Orte, an denen sie mit langen Fingern danach fischen musste …
Hör auf damit, ermahnte er sich. Du hast das alles verpasst. Du musst aufholen, damit ihr zeitgleich seid.
Mittlerweile hatte sie wahrscheinlich ihre durchgeschwitzten Klamotten ausgezogen.
Stanley liebte es, sich das vorzustellen. Wie sie mit einem Schuh begann, auf einem Bein balancierte, während sie das andere anhob, sich leicht vorbeugte und den Schuh mit …
Aufholen, aber schnell!
Ja.
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