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Wenn das Herz im Kopf schlägt

Wenn das Herz im Kopf schlägt

Titel: Wenn das Herz im Kopf schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechtild Borrmann
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Dienstag, 25. März 2000
- 2 -
    Die Haustür fällt mit einem sanften Klack ins Schloss. Augenblicklich ist sie von einem Geruchscocktail aus Zitrusreiniger, Knoblauch und Kohlwurst eingehüllt. Anna atmet durch den Mund. Vor den Briefkästen stehen ein Kinderwagen und ein Dreirad. Sie legt die Aktentasche auf den Sitz des Dreirades, schiebt den Kinderwagen zur Seite und zieht den vierten verbeulten Metallkasten in der oberen Reihe auf.
    Das Namensschild ist kaum noch zu lesen.
    Seit zwanzig Jahren steckt der Papierstreifen hinter dem Kunststofffensterchen. Damals war sie zusammen mit einer anderen Studentin hier eingezogen. Sie hatten am Küchentisch mehrere Exemplare dieser Minischilder angefertigt. Vier Jahre später hatte ihre Mitbewohnerin ihr Studium beendet und war nach Bonn gezogen. Anna hat das Papierchen herausgenommen und den unteren Namen durchgestrichen.
    Lange bleib ich auch nicht mehr, hat sie gedacht.
    Hier hatte sie ihre kurze Ehe mit André geführt und ihre Tochter großgezogen, hier lebt sie seit gut einem halben Jahr wieder allein, und hier wird sie wahrscheinlich auch sterben. Reklame, eine Ansichtskarte von Margret und Karl.
    Sie läuft die abgetretene Steintreppe hoch, nimmt immer zwei Stufen auf einmal. Die letzten Stufen, vom zweiten in den dritten Stock, nimmt sie einzeln und kramt dabei in ihrer Jackentasche nach dem Wohnungsschlüssel.
    Das macht sie immer so. Den richtigen Schlüssel schon zwischen Daumen und Zeigefinger, wie eine kleine Waffe, mit der sie sich zur Not den Weg freischießen kann, um direkt in ihrer Wohnung zu verschwinden.
    Sie schafft es nicht.
    Ihre Nachbarin steht zappelnd in der Eingangstür ihrer Wohnung, schiebt mit dem linken Fuß beharrlich ihren Pudel in den Flur zurück. Sie wedelt mit einem Brief in der rechten Hand, als müsse sie ein ausgehendes Feuer retten. »Frau Behrens, wie gut, dass ich Sie antreffe.« Die Figur der Nachbarin erinnert an eine Kentaurin. Heute trägt sie einen rosafarbenen Trainingsanzug aus Fliegerseide. Die Jacke hängt weit über ihren schmalen Oberkörper. Das Unterteil spannt über ausladende Oberschenkel und Hüften. »Ein Einschreiben für Sie!« Sie hält Anna den Briefumschlag entgegen. »Rechtsanwalt!« Sie beugt sich noch weiter zur Tür hinaus und tritt den kläffenden Pudel entschieden in die Wohnung zurück. »Also, wenn das jetzt wegen des Schimmels im Bad ist, lassen Sie sich nicht einschüchtern. Wir haben den auch, und ich lüfte regelmäßig!«
    Anna greift mit der rechten Hand nach dem Brief und schließt mit der Linken die Wohnungstüre auf.
    »Wenn Sie Zeugen brauchen, ich meine ...«
    »Danke!« Die Türe fällt hinter ihr ins Schloss, und sie kann endlich wieder atmen. Draußen redet ihre Nachbarin auf ihren Hund ein.
    Anna betrachtet den Absender.
Dr. Martin Kley, Rechtsanwalt und Notar, Kleve
.
    Für einen Augenblick löst sich die Schrift vor ihren Augen auf. Sie sieht Felder und Wiesen, Kopfweiden am Bach und am Horizont eine schnurgerade Pappelreihe. Das sind die Soldaten am Ende der Welt!
    Sie geht den Korridor entlang in die Küche, wirft Ansichtskarte, Werbung und Schlüsselbund auf den Küchentisch und öffnet das Fenster. Draußen vermischen sich die ersten Schatten des Abends mit dem Grau des Tages. Ohne den Brief abzulegen, zieht sie ihre Lederjacke aus. Das Papier wehrt und windet sich in ihrer Hand, während sie den Ärmel ihrer Jacke abstreift.
    Im Park schimpft eine Frau auf türkisch mit ihren Kindern. Die Laute klingen erdig und vital. Sie hat Französisch, Englisch und Russisch studiert. Französisch und Englisch, weil Karl ihr dazu geraten hatte. Russisch, weil es ihr damals so verlässlich klang.
    Sie geht zur Küchenschublade, nimmt das kleine Obstmesser und schlitzt das Kuvert mit einem Ruck auf.
    Sie braucht lange, um zu verstehen. Es ist, als würde sie einen komplizierten russischen Text übersetzen.
    Draußen ist der Tag hinter den Wohnblocks, am anderen Ende des Parks, abgestürzt. Die Laternen streuen diffuses Licht auf die Wege. In der Nachbarschaft spazieren Fernsehstimmen aus den Fenstern und fallen in den Park.
    Nachlass Frau Johanna Behrens. Verstorben 25.02.2000
.
    Nachlassnehmerin: Frau Anna Behrens
.
    Eine Kate mit Inventar, 20 Hektar Weideland, ein Eichenhain
.
    Sie starrt hinaus in den Park.
    Sie sieht die Kate im Schatten des Eichenwaldes, die Wiesen und Felder und auf dem kleinen Hügel den Hof. Den Behrenshof!
    Die Bilder bringen diese Taubheit mit sich, diese dröhnende

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