Das Jahr Des Werwolfs
Drachen flattert wild.
Brady wirft sich herum; er will wegrennen, aber harte Arme umschlingen ihn; er riecht so etwas wie Blut und Zimt, und am nächsten Tag wird er am Kriegerdenkmal lehnend gefunden, ohne Kopf, den Geierdrachen in einer seiner steifen Hände.
Die Männer des Suchtrupps werden von Entsetzen und Übelkeit gepackt. Als sie sich abwenden,
flattert der Geier, als wolle er sich in den Himmel erheben. Er flattert, weil Wind aufgekommen ist. Er flattert, als wüßte er, daß dies ein guter Tag sein wird für Leute, die Drachen steigen lassen wollen.
In der Nacht bevor in der Gnadenkirche der Baptisten der Pfingstsonntag begangen werden soll, hat der Reverend Lester Löwe einen entsetzlichen Traum.
Zitternd und schweißgebadet erwacht er, um aus den schmalen Fenstern des Pfarrhauses nach draußen zu starren. Auf der anderen Straßenseite kann er seine Kirche sehen. In ruhigen silbernen Strahlen fällt der Mondschein durch die Schlafzimmerfenster des Pfarrhauses herein, und einen Augenblick lang erwartet er tatsächlich, den Werwolf zu sehen, von dem die alten Männer tuscheln. Dann schließt er die Augen und bittet um Vergebung für diesen Rückfall in den Aberglauben. Er beendet sein Gebet mit einem geflüsterten »Um Jesu willen, Amen« — so enden alle seine Gebete, wie seine Mutter es ihn gelehrt hat.
Aber dieser Traum, dieser gräßliche Traum …
In seinem Traum war es schon morgen, und er hatte die Pfingstpredigt gehalten. Zu Pfingsten ist die Kirche immer voll, und statt auf leere oder halbleere Bänke zu blicken, wie an den meisten Sonntagen, sieht er alle Bänke besetzt.
In seinem Traum hat er mit einem Feuer und einer Kraft gepredigt, die er in Wirklichkeit kaum aufbringt. Er neigt zu monotoner Sprechweise, was einer der Gründe dafür sein mag, daß der Besuch seiner Gottesdienste in den letzten etwa zehn Jahren so drastisch zurückgegangen ist. Seine Zunge scheint vom pfingstlichen Feuer angerührt, und er weiß, daß er die größte Predigt seines Lebens hält, und ihr Gegenstand lautet: DIE BESTIE IST UNTER UNS. Immer wieder hämmert er es seinen Zuhörern ein und spürt vage, daß seine Stimme an Kraft gewonnen hat und daß seine Worte einen fast poetischen Rhythmus angenommen haben.
Die Bestie, ruft er ihnen zu, ist überall. Der Große Satan, erzählt er ihnen, kann überall auftauchen. Bei einem Tanzvergnügen in der High-School. Wenn man im Kramladen eine Schachtel
Marlboro und ein Gasfeuerzeug kauft. Vor Brighton’s Drugstore, wenn man dort gerade eine Wurst ißt und darauf wartet, daß der Greyhound-Bus aus Bangor vorfährt. Die Bestie könnte bei einem Konzert neben euch sitzen oder auch im Hamburger-Imbiß an der Hauptstraße, wenn ihr mit einem Big Mac beschäftigt seid. Die Bestie, erzählt er ihnen, und seine Stimme sinkt zu einem Flüstern, und kein Auge wendet sich ab. Er hat sie in seinem Bann. Seid auf der Hut vor der Bestie, denn sie mag lächeln und sagen, sie sei euer Nachbar, aber,
o meine Brüder, ihre Zähne sind scharf, und ihr bemerkt vielleicht, wie sie unruhig mit den Augen rollt. Er ist die Bestie, und er ist hier. Jetzt. In Tarker’s Mills. Bei uns. Er…
Aber hier bricht er ab, und seine ganze Beredsamkeit verläßt ihn, denn dort draußen in der sonnendurchfluteten Kirche ereignet sich etwas Entsetzliches. Seine Gemeinde beginnt, sich zu verändern, und er erkennt voll Grauen, daß sie sich alle in Wölfe verwandeln, alle dreihundert: Victor Bowle, der Magistratssprecher, der gewöhnlich so weiß und fett und plump ist… seine Haut wird braun und rauh und dunkel von Haaren! Violet McKenzie, die Klavierlehrerin … ihre schmäch
tige Altjungfernfigur füllt sich, ihre spitze Nase wird flach und dehnt sich! Der fette Naturkundelehrer Elbert Freeman scheint noch fetter zu werden, sein blankgescheuerter blauer Anzug platzt auf, und dichte Haarbüschel brechen daraus hervor, wie das Füllmaterial aus einem alten Sofa quillt! Seine fetten Lippen platzen wie Blasen auseinander und geben Zähne frei, so groß wie Klaviertasten!
Die Bestie, will Reverend Löwe im Traum rufen, aber seine Stimme versagt, und er taumelt entsetzt von der Kanzel zurück, als er Cal Blodwin, den Diakon der Gnadenkirche der Baptisten das Mittelschiff hinuntertorkeln sieht. Er knurrt und hält den Kopf schief, und die Münzen fallen von seinem silbernen Kollektenteller. Violet McKenzie springt ihn an, und sie wälzen sich im Mittelschiff und beißen sich und kreischen mit
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