Das Jahr Des Werwolfs
Irgendwo hoch oben scheint der Mond, groß und voll — aber hier in Tarker’s Mills hat ein Januar-Blizzard den Himmel mit Schnee erstickt. Der Sturm braust mächtig durch die verlassene Hauptstraße des Städtchens; die orangefarbenen städtischen Schneepflüge haben schon lange aufgegeben. Arnie Westrum, Bremser bei der GS& WM-Eisenbahn-Linie, hat sich in den kleinen Geräte-und Signalschuppen neun Meilen vor der Stadt zurückgezogen, denn seine benzinbetriebene Draisine ist in den Schneewehen steckengeblieben. Hier wartet er darauf, daß der Sturm nachläßt. Inzwischen legt er mit seinem schmierigen Kartenspiel Patiencen. Draußen steigert sich der Sturm zu einem schrillen Heulen. Westrum hebt unruhig den Kopf und widmet sich dann wieder seinen
Karten. Es ist nur der Wind … Aber der Wind kratzt nicht an Türen … und winselt nicht um Einlaß.
Westrum steht auf, ein großer hagerer Mann in Wolljacke und Eisenbahn-Overall; eine Camel-Zigarette hängt ihm aus dem Mundwinkel, und die Kerosinlampe an der Wand taucht sein zerfurchtes Neu-England-Gesicht in weiches hellrotes Licht.
Wieder das Kratzen. Irgendein Hund, denkt er, der sich verlaufen hat und jetzt Schutz sucht. Weiter nichts … aber Westrum beginnt nachzudenken. Es wäre unmenschlich, das Tier draußen in der Kälte zu lassen, überlegt er. Trotz des batteriegespeisten Heizgeräts ist es aber im Schuppen nicht sehr viel wärmer als draußen. Westrum sieht die kalte weiße Wolke seines Atems — aber er zögert, zur Tür zu gehen. Eine kleine, kalte Angst nagt plötzlich an ihm. Tarker’s Mills hat eine schlechte Saison erlebt; es hat böse Vorzeichen gegeben. In Arnies Adern überwiegt das walisische Blut seines Vaters, und ihm gefällt die ganze Sturmnacht nicht.
Bevor er überlegen kann, wie er sich seinem Besucher gegenüber verhalten soll, schwillt das leise Winseln zu einem Knurren an. Es gibt einen dumpfen Schlag, als etwas Schweres gegen die Tür prallt … sich zurückzieht… wieder zuschlägt. Die Tür zittert in ihrem Rahmen, und durch den oberen Spalt dringt eine kleine Wolke Schnee in den Raum.
Arnie Westrum schaut sich rasch um; er sucht etwas, womit er die Tür abstützen kann, aber bevor er nach dem wackligen Stuhl greifen kann, auf dem er gesessen hat, wirft sich das knurrende Ding wieder mit unglaublicher Wucht gegen die Tür. Das Holz zersplittert…
Nach innen gebogen, hängt die Tür gerade noch im Rahmen, und in ihr steckt, wild mit den Füßen tretend und vorwärtsdrängend, die Lefzen im Knurren zurückgezogen, die gelben Augen funkelnd, der größte Wolf, den Arnie je gesehen hat…
Und sein Knurren klingt auf entsetzliche Weise wie menschliche Worte.
Die Tür bricht, ächzt, gibt nach. Gleich wird das Ding im Schuppen sein.
In der Ecke lehnt in einem Durcheinander von Werkzeugen eine Spitzhacke an der Wand. Arnie springt hinüber und packt sie, als der Wolf sich in den Schuppen zwängt, sich duckt und den in die
Enge getriebenen Mann aus glitzernden gelben Augen beobachtet. Das Tier hat die Ohren angelegt, pelzige Dreiecke, und läßt die Zunge heraushängen. Hinter ihm fegt der Schnee durch die Tür herein, deren Reste in den Angeln klappern.
Knurrend springt er zu, und Arnie Westrum schwingt die Spitzhacke.
Einmal.
Durch die zersplitterte Tür wirft die schwach leuchtende Lampe Lichtfetzen nach draußen in den Schnee.
Der Wind rauscht und heult.
Die Schreie beginnen.
Etwas Unmenschliches ist nach Tarker’s Mills gekommen, so unbemerkt wie der Vollmond, der jenseits der Sturmwolken über den nächtlichen Himmel zieht. Der Werwolf ist da. Warum er gerade jetzt kommt, ist genauso wenig zu bestimmen, wie man weiß, warum Krebs kommt oder ein Irrer mit Mordgedanken oder ein alles zerstörender Tornado. Seine Zeit ist jetzt, und sein Ort ist hier, in dieser kleinen Stadt in Maine, wo Wohltätigkeitsessen aus gebackenen Bohnen das Ereignis der Woche sind, wo die kleinen Jungen und Mädchen ihren Lehrern noch Äpfel mitbringen und wo über die vom Senioren-Club veranstalteten Ausflüge in die Natur mit religiösem Eifer im Wochenblatt berichtet wird. Nächste Woche wird es Neuigkeiten von dunklerer Art geben.
Draußen verwischt der Schnee die Spuren, und der Sturm heult ein wildes, jubelndes Heulen. Dieses herzlose Lied des Sturmes spottet Gott und dem Licht — es kündet von schwarzem Winter und dunklem Eis.
Das Jahr des Werwolfs hat begonnen.
Liebe, denkt Stella Randolph, als sie am Valentinstag in ihrem
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