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Das Jahr Des Werwolfs

Das Jahr Des Werwolfs

Titel: Das Jahr Des Werwolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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ihm zu reden. Großvater Coslaw schaute über den leicht abfallenden Rasen zum Wald hinüber und hielt dabei ein Glas Schnaps in der Hand. Das war vor zwei Tagen. Am zweiten Juli. »Sie haben nur das Feuerwerk abgesagt. Und du weißt auch weshalb.«
    Marty wußte es. Der Mörder, deshalb. In den Zeitungen nannten sie ihn jetzt den Vollmondmörder, aber Marty hatte vor den Sommerferien in der
    Schule das eine oder andere Gerücht gehört. Einige Kinder sagten, der Vollmondmörder sei gar kein Mensch, sondern eine Art Gespenst. Ein Monster. Vielleicht ein Werwolf. Marty glaubte das nicht — Werwölfe gehören ausschließlich in Horror-Filme — aber er kann sich denken, daß es einen Verrückten gibt, der nur bei Vollmond die Lust zum Morden verspürte. Das Feuerwerk war abgesagt worden, weil es bei Vollmond jetzt immer diese verdammte Ausgangssperre gibt.
    Wenn er im Januar in seinem Rollstuhl hinter den Glastüren saß und auf die Veranda hinausschaute und sah, wie der Wind kalte Schneeschleier über den gefrorenen Boden fegte, oder wenn er steif wie eine Statue in seinem Stützkorsett an der Vordertür stand und die anderen Kinder ihre Schlitten den Hügel hinaufziehen sah, dann half allein der Gedanke an das Feuerwerk ihm schon sehr. Der Gedanke an einen warmen Sommerabend, an eine kalte Cola, an Feuerrosen, die am dunklen Himmel erblühen und an die amerikanische Flagge aus Leuchtkugeln.
    Aber jetzt haben sie das Feuerwerk abgesagt… und ganz gleich was die anderen sagen, Marty hat das Gefühl, daß sie in Wirklichkeit den Nationalfeiertag — seinen Nationalfeiertag abgeschafft haben.
    Nur Onkel AI, der am späten Vormittag hereingeschneit kam, um zusammen mit der Familie den traditionellen Lachs mit frischen Erbsen zu essen, hatte ihn verstanden. Er hatte nach dem Lunch in seiner triefenden Badehose auf der Veranda gestanden (die anderen badeten und lachten im neuen, auf der anderen Seite gelegenen Pool der Coslaws) und aufmerksam zugehört.
    Marty hatte seine Klage vorgebracht und sah Onkel AI bekümmert an.
    »Verstehst du, was ich meine? Begreifst du es? Es hat nichts damit zu tun, daß ich ein Krüppel bin, wie Katie meint, und ich bringe auch nicht das Feuerwerk und Amerika durcheinander, wie Großvater glaubt. Es ist einfach nicht richtig, wenn jemand sich so lange auf etwas freut… es ist nicht richtig, daß dann Victor Bowle kommt und irgendein dämlicher Stadtrat und einem das wegnimmt. Nicht, wenn es etwas ist, was man wirklich braucht. Verstehst du das nicht?«
    Es entstand eine lange quälende Pause, während Onkel AI über Martys Frage nachdachte. Sie dauerte so lange, daß Marty die Tritte und das Knarren vom Sprungbrett am anderen Ende des Pools hören konnte, anschließend die laute Stimme seines Vaters: »Gut gemacht, Kate! Ho, ho! Wirklich gut!«
    Dann sagte Onkel AI ruhig: »Natürlich verstehe ich dich. Und ich glaube, ich habe etwas für dich. Vielleicht kannst du dir deinen eigenen Nationalfeiertag gestalten.«
    »Meinen eigenen? Wie meinst du das?«
    »Komm mit zu meinem Wagen, Marty. Ich habe etwas … nun, ich werde es dir zeigen.« Und er war schon über den Betonpfad verschwunden, der um das Haus herumführte, bevor Marty ihn noch einmal fragen konnte.
    Sein Rollstuhl summte über den Pfad zur Einfahrt hinüber und entfernte sich von dem Lärm am Swimming-Pool, dem Spritzen, dem übermütigen Jauchzen und dem Knarren des Sprungbretts. Er entfernte sich auch von der dröhnenden Kumpel-Stimme seines Vaters. Der Rollstuhl verursachte nur ein schwaches Geräusch, ein leises Summen, das Marty kaum noch wahrnahm — sein ganzes Leben lang war dieses Geräusch zusammen mit dem metallischen Knacken seines Stützkorsetts die Begleitmusik zu allen seinen Bewegungen gewesen.
    Onkel Als Wagen war ein flaches Marcedes-Kabriolett. Marty wußte, daß seine Eltern vieles gegen diesen Wagen einzuwenden hatten. Seine Mutter hatte ihn einmal böse eine »Achtundzwan-zigtausend-Dollar-Todesfalle« genannt. Aber Marty liebte ihn. Onkel AI hatte ihn schon gelegentlich auf nicht so stark befahrenen Straßen in Tarker’s Mills mitgenommen, und er war sehr schnell gefahren — siebzig, vielleicht auch achtzig Meilen. Er wollte Marty nicht sagen, wie schnell sie fuhren. »Wenn du es nicht weißt, hast du auch keine Angst«, hatte er gesagt. Aber Marty hatte keine Angst gehabt. Nur vom vielen Lachen hatte ihm am nächsten Tag der Bauch wehgetan.
    Onkel AI nahm etwas aus dem Handschuhfach seines Wagens, und

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