Das Jahr Des Werwolfs
an, um ihn zu bitten, wegzubleiben, und das war das Wichtigste.
Beim Abendessen zischte ihm Katie böse ins Ohr. »Du kriegst immer was du willst! Nur weil du ein Krüppel bist!«
Grinsend flüsterte Marty zurück: »Ich liebe dich genauso sehr, Schwesterchen.«
»Du kleiner Satan!«
Sie stürzte davon. Und dann ist der Silvesterabend da. Martys Mutter war überzeugt, daß AI nicht kommen würde, denn der Sturm war stärker geworden, er heulte und stöhnte und trieb immer mehr Schnee vor sich her. Um die Wahrheit zu sagen, auch Marty hatte einige böse Augenblicke … aber Onkel AI traf gegen acht Uhr ein. Er fuhr nicht seinen Mercedes Sportwagen, sondern ein geliehenes Fahrzeug mit Vierradantrieb.
Gegen elf Uhr dreißig ist außer ihnen beiden die ganze Familie ins Bett gegangen, und so ungefähr hatte Marty es vorausgesehen. Und obwohl Onkel AI die ganze Sache immer noch nicht ernstnimmt, hat er nicht einen, sondern zwei Revolver mitgebracht, die er jetzt unter seinem schweren Mantel hervorholt. Wortlos reicht er Marty die Waffe mit den beiden Silberkugeln. Wie um ihre Argumente zu unterstreichen, läßt Martys Mutter die Tür zum Elternschlafzimmer knallend ins Schloß fallen. Die andere Waffe ist mit konventioneller Bleimunition geladen … aber AI zweifelt, ob ein Wahnsinniger, der hier heute nacht eindringen will, sich von einer .45 Magnum aufhalten lassen wird. Und je mehr Zeit vergeht, ohne daß etwas geschieht, um so stärker werden seine Zweifel.
Im Fernsehen schwenken die Kameras jetzt immer häufiger zu der großen erleuchteten Kugel auf dem Allied Chemical Building am Times Square hinüber. Die letzten paar Minuten des Jahres verstreichen. Die Menge jubelt. In der Ecke gegenüber dem Fernsehgerät steht immer noch der Weihnachtsbaum der Coslaws, der langsam vertrocknet und braun wird und traurig, seiner Geschenke entkleidet, vor sich hin nadelt.
»Marty, nichts —« fängt Onkel AI an, und dann zerspringt das große Aussichtsfenster des Wohnzimmers in einem Hagel von glitzernden Splittern nach innen und läßt den heulenden schwarzen Wind von draußen herein und wirbelnden weißen Schnee … und die Bestie.
AI ist einen Augenblick lang wie erstarrt, erstarrt vor Grauen, und weil er nicht glauben kann, was er sieht. Die Bestie ist riesig, vielleicht zwei Meter zehn, obwohl sie sich vorbeugt, so daß ihre Klauenhände fast über den Teppich schleifen. Ihr eines grünes Auge (genau wie Marty sagte, denkt er dumpf, alles ganz genau wie Marty sagte) rollt in seiner Höhle und funkelt böse und fixiert Marty, der in seinem Rollstuhl sitzt. Die Bestie springt auf Marty zu und stößt zwischen ihren riesigen gelblichweißen Zähnen ein brüllendes Triumphgeheul aus.
Ruhig und fast ohne erkennbare Veränderung seines Gesichtsausdrucks hebt Marty den .38 Revolver. Er sieht in seinem Rollstuhl winzig aus; Seine Beine stecken in weichen verblichenen Jeans, und an seinen Füßen, die sein ganzes Leben lang taub und gefühllos waren, trägt er pelzgefütterte Hausschuhe. Und — es ist unglaublich — obwohl der Werwolf wütend brüllt, obwohl der Wind heult, und obwohl Als Gedanken durcheinandergeraten, weil er nicht begreift, wie so etwas in einer Welt der Realitäten geschehen kann, hört er trotzdem die Stimme seines Neffen sagen: »Armer alter Reverend Löwe, ich will versuchen, dich zu erlösen.«
Und als der Werwolf mit ausgestreckten Klauenhänden lospringt, und sein Schatten als großer Fleck auf dem Teppich zu sehen ist, schießt Marty. Wegen der geringen Pulvermenge im Treibsatz verursacht der Schuß ein fast lächerliches leises Geräusch. Es hört sich an, als würde mit einem Luftgewehr geschossen.
Aber das Wutgebrüll des Werwolfs steigert sich zu einem infernalischen Schmerzensschrei. Die Bestie kracht gegen die Wand und schlägt mit der Schulter ein großes Loch hinein. Ein Bild von Currier and Ives fällt ihr auf den Kopf, gleitet an ihrem dicken Rückenpelz herab und zersplittert auf dem Fußboden. Der Werwolf dreht sich um. Blut fließt über die bösartige behaarte Maske seines Gesichts, und er rollt mit seinem grünen Auge.
Knurrend taumelt er auf Marty zu. Seine Klauenhände öffnen und schließen sich, und aus seinem klaffenden Maul quillt blutiger Schaum. Marty hält den Revolver mit beiden Händen, wie ein Kind eine Tasse hält. Er wartet, wartet… und als der Werwolf wieder auf ihn zuspringt, schießt er. Das andere Auge erlischt wie eine Kerze im Sturm! Wieder schreit die
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