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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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saß sehr gerade, so als wäre sie eine Fremde, eben zu Besuch gekommen.
    »Jetzt siehst du aus wie Scotland und nicht mehr wie Scotty.« Die von der Decke herabhängenden blauen Stoffe wischten mir durch das Gesicht. Ich legte meine Brötchentüte ab und setzte mich ihr gegenüber. »Ich hab außer Brötchen ein Seil und einen Revolver gekauft. Ich werde mich zwischen diesen beiden Dingen noch entscheiden.«
    Sie runzelte die Stirn, was sie nicht besonders gut konnte. Es entstand nur unebenes Gelände ohne klare Strukturen.
    »Weil du mich mit deiner scheinbaren Liebe zu mir betrogen hast, werde ich dich erschießen. In den Medien wird man mich als Held feiern. Vielleicht wird meine Geschichte sogar verfilmt.«
    »Und was ist mit dem Seil?«
    »Die andere Lösung. Ich werde dich fesseln, damit du mich nicht verlassen kannst. Entführungsopfer solidarisieren sich nach einiger Zeit immer mit ihren Entführern. Das Stockholm-Syndrom. Es besteht also die Chance, dass du mich dann nicht mehr verlassen willst.«
    »Und die dritte Möglichkeit: Wir frühstücken erst einmal.« Sie beobachtete mich, wartete, bis ich zum Besteck griff, um gleichzeitig mit mir das Frühstücksei zu öffnen. In den vergangenen Tagen hatte sie immer versucht, im selben Moment mit mir das Gleiche zu essen, zu trinken, den gleichen Geschmack auf der Zunge zu haben und mich in diesem Wissen mit großer Freude anzusehen. Zeitgleich leben nannte sie es.
    Ich nahm mein Ei in die Hand, nur dann gelingt es mir, Eier plastisch zu sehen; aus der Ferne ist jedes zuerst ein besonders gelungenes O in meinem Alphabet der Lebensmittel.
    »Du solltest froh sein, dass ich rechtzeitig gehe«, sagte sie. »Frauen in meinem Alter verlieren ihre Form, werden dick und unansehnlich.«
    »Das soll mich trösten?«
    »Als deine Frau würde ich die Hälfte deines Vermögens verlangen, ein großes Auto, ein Haus auf dem Land, eine Putzfrau, eine Köchin, einen Gärtner, vier Kinder, Kindermädchen, einen Fahrer. Ich würde dich unbarmherzig antreiben, mehr Geld zu verdienen. Und für das Geld würde ich unsinnige Dinge kaufen wie Engel als Kerzenleuchter, Pantoffeln in der Form von Katzenköpfen, Jungfrauenstatuen für den Garten, Wandteppiche mit Elvis-Presley-Porträt. Wenn du zehn Jahre lang pausenlos gearbeitet hast, grau und erschöpft davon bist, mich zu befriedigen, werde ich mich scheiden lassen, dir Haus, Auto, Kinder wegnehmen und eine Million fordern sowie regelmäßigen Unterhalt in einer Höhe verlangen, dass er dir kaum Luft zum Atmen lässt.«
    »Ja, ich weiß. So geht es immer. Es macht nichts.«
    »Unsere Kinder werden dich hassen und mich lieben. Ich sehe es schon vor mir, wie du eines von ihnen grob anfasst, weil es deine Buchstabenentwürfe zerrissen hat, die du gerade einem bedeutenden Kunden präsentieren willst. Du ohrfeigst unser Kind dafür, und in diesem Moment werde ich dir im Affekt den Brieföffner ins Herz stoßen. Du wirst tot sein. Mich aber spricht das Geschworenengericht frei, denn es gelingt mir, dich als Teufel hinzustellen.«
    »Ja, ich weiß, dass es so kommen könnte. Es macht mir nichts aus, von dir getötet zu werden.«
    »Du wirst sehr bald sterben, wenn ich bei dir bleibe. Ich hab dir jede Nacht etwa einen Viertelliter Blut abgezapft. Hast du die Wunde an deinem linken Unterarm gesehen? Ich sage dir nicht, was ich damit mache.«
    Ich streifte meinen Ärmel hoch. Es stimmte, seit ein paar Tagen hatte ich dort eine Wunde, die sich nicht schloss.
    »Falls du mein Blut trinkst, bleib und mach weiter. Wahrscheinlich hast du nur eine Blutprobe für den Bericht gebraucht.«
    Sie brach ein Stück von einem Brötchen ab, schmierte bittere Orangenmarmelade darauf und aß es.
    »Diesen Bericht«, fragte ich, »den gibt es wirklich?«
    »Es ist mehr ein Fragebogen.«
    »Was will der Teufel von mir wissen?«
    »Wie du lebst, was du so machst und denkst. Eigentlich nichts Besonderes. Nichts, was er dich nicht auch fragen könnte.«
    »Und du kommst wirklich nicht wieder?«
    Sie nickte.
    »Es ist Betrug.«
    »Aber wie würdest du dich fühlen, wenn ich ohne Erklärung gegangen, wenn ich einfach verschwunden wäre?«
    »Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall hätte ich versucht, dich wiederzufinden. Ich hätte mir Geschichten ausdenken können. Zum Beispiel, dass du von deinem brutalen Ehemann gehindert wirst, das Haus zu verlassen.«
    »Ich bin nicht verheiratet.«
    »Ich wäre zur Polizei gegangen. Eine Vermisstenanzeige. Ich hätte mir deine

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