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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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bösen Jahre vorbei sein würden, wenn wir sie erst mal gefunden hätten. Ich fand nur, sie war die schnellste Kofferpackerin der Welt. Außerdem brach sie einen Vertrag, und ein schlimmeres Vergehen gibt es offenbar nicht südlich der Alpen. Vater sagte, in Norwegen bekäme sie sicher neue Angebote.
    Nach zwei turbulenten Tagen saßen wir also im Auto und fuhren auf dem schnellsten Weg durch Jugoslawien nach Norditalien. Ich saß wie früher auf dem Rücksitz, aber nun saßen vor mir zwei Erwachsene, und es war unmöglich, in dem Brötchenbuch zu lesen. Mama drehte sich immer wieder um, und es war nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sie das kleine Buch entdeckte und womöglich wissen wollte, was darin stand.
    Doch als wir spätnachts in Norditalien ankamen, mieteten sie mir ein Einzelzimmer, und ich war ungestört. Ich las, bis ich tief in der Nacht mit dem Brötchenbuch auf dem Schoß einschlief.

HERZ SECHS
    ... so wahr wie die Sonne und der Mond...
     
     
     
    Albert hatte die ganze Nacht hindurch erzählt, und immer wieder hatte ich ihn mir dabei als Jungen von zehn oder zwölf oder dreizehn Jahren vorgestellt. Er saß vor dem Kamin und starrte in ein Häufchen Glut und Asche, das vor langer, langer Zeit ein loderndes Feuer gewesen war. Ich hatte ihn während seiner Erzählung nicht unterbrochen – so, wie er selber in der Nacht vor zweiundfünfzig Jahren stumm geblieben war, als der Bäcker-Hans ihm von Frode und der seltsamen Insel erzählt hatte. Jetzt erhob ich mich und ging zu dem Fenster, das auf Dorf hinunterblickte.
    Draußen graute der Morgen. Nebel trieb über dem kleinen Dorf; über dem Waldemarsee hingen dichte Wolken. Weit hinter Dorf sah ich das Sonnenlicht auf die Berghänge kriechen.
    Mir gingen so viele Fragen durch den Kopf, daß ich nicht wußte, wo ich anfangen sollte. Also schwieg ich. Ich ging wieder zum Kamin zurück und setzte mich neben Albert, der mich so herzlich aufgenommen hatte, als ich vor seinem Häuschen erschöpft zusammengebrochen war.
    Noch stiegen dünne Rauchreste aus der Asche im Kamin. Sie sahen aus wie Morgennebel.
    »Du wirst also hier in Dorf bleiben, Ludwig«, sagte der alte Bäcker.
    Die Art, in der er es sagte, konnte man ebensogut als Befehl wie als Frage auffassen. Vielleicht sollte es beides sein.
    »Natürlich«, sagte ich. Mir war längst klar, daß ich der nächste Bäcker von Dorf werden würde. Und ich begriff, dazu gehörte, daß ich das Geheimnis der magischen Insel weitertragen sollte.
    »Ich habe nur keinen Augenblick daran gedacht...«, sagte ich.
    »Woran, mein Sohn?«
    »Das Jokerspiel... Wenn ich der unglückliche Soldat aus dem Land im Norden bin...«
    »Ja?«
    »Dann habe ich... dann habe ich da oben einen Sohn«, sagte ich. Und nun konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Ich schlug die Hände vors Gesicht und weinte.
    Der alte Bäcker legte mir den Arm um die Schultern.
    »So ist es, ja«, sagte er. »Soldat weiß nicht, daß geschorene Frau schönen Knaben bekommt!«
    Er ließ mich ruhig weinen. Erst als ich wieder aufblickte, sagte er: »Nur eines habe ich nie begriffen, und das kannst du mir vielleicht erklären.«
    »Was meinst du?«
    »Warum wurde die Arme geschoren?«
    »Ich wußte selber nicht, daß sie es wurde«, sagte ich. »Ich wußte nicht, daß sie ihr so weh getan haben. Ich habe nur gehört, daß so etwas nach der Befreiung vorgekommen ist. Frauen, die mit feindlichen Soldaten zusammengewesen waren, verloren Haare und Ehre, wie man sagte. Und deshalb ... ja, wohl nur deshalb, weil ich solche Dinge hörte, habe ich mich nicht wieder bei ihr gemeldet. Vielleicht will sie vergessen, habe ich gedacht, vielleicht tut es ihr nur noch mehr weh, wenn ich mich melde. Ich dachte außerdem, niemand hätte etwas über uns gewußt. Und so war es wohl auch. Aber wenn eine Frau ein Kind bekommt... dann läßt sich die Wahrheit wohl nicht mehr verheimlichen.«
    »Ich verstehe«, sagte Albert und starrte in den fast leeren Kamin.
    Ich stand auf und ging ruhelos im Zimmer hin und her. Konnte das wirklich alles wahr sein? fragte ich mich. Und wenn Albert nur ein bißchen verrückt war – wie im »Schönen Waldemar« getuschelt wurde? Plötzlich ging mir auf, daß ich nicht den geringsten Beweis dafür hatte, daß Alberts Geschichte stimmte. Alles, was er über den Bäcker-Hans erzählt hatte, konnten die Hirngespinste eines Verwirrten sein. Ich selber hatte weder etwas von der Purpurlimonade noch von dem Kartenspiel gesehen. Mein einziger

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