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Das Kartengeheimnis

Das Kartengeheimnis

Titel: Das Kartengeheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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und ich erschrak fast zu Tode. Vergiß nicht, ich war gerade zwölf Jahre alt. Vielleicht wartete zu Hause mein Vater und war wütend, weil ich beim Bäcker-Hans war und wieder einmal nicht den Weg nach Hause fand. Nun ja – er wartete nur auf mich, wenn er nüchtern war, und das kam selten vor. Wahrscheinlich lag er irgendwo im Dorf und schlief einen seiner Räusche aus. Im Grunde war der Bäcker-Hans der einzige Mensch in meinem Leben, auf den ich mich verlassen konnte.
    ›Dann muß er aber schrecklich alt sein‹, wandte ich ein.
    Der Bäcker-Hans schüttelte energisch den Kopf. ›Weißt du nicht mehr: Joker altern nicht!‹
    ›Hast du ihn seit eurer Rückkehr wiedergesehen?‹ fragte ich.
    Der Bäcker-Hans nickte ernst.
    ›Ein einziges Mal... Ein halbes Jahr ist das jetzt her. Ich war mir ganz sicher, ich hatte den kleinen Wicht auf der Straße vor meiner Bäckerei gesehen. Aber bis ich selber draußen auf der Straße war, war er schon wie vom Erdboden verschluckt. Und da bist du in diese Geschichte getreten, Albert. An diesem Nachmittag hatte ich das Vergnügen, ein paar Lausebengel zu versohlen, die dir schon länger das Leben schwermachten. Und der Tag, an dem das geschah... der Tag war ein ganz besonderer: Es war genau zweiundfünfzig Jahre her, daß Frodes Insel im Meer versunken war. Ich habe es wieder und wieder nachgerechnet – ich bin mir sicher, daß es der Jokertag gewesen sein muß.‹
    Ich schaute ihn wohl an, als wäre er ein Geist.
    ›Gilt der alte Kalender denn immer noch?‹ fragte ich.
    ›Es sieht so aus, mein Sohn. Und an jenem Tag ging mir auf, daß du der einsame Knabe sein mußtest, der seine Mutter durch eine Krankheit verloren hatte. Nur deshalb konnte ich dir das glitzernde Getränk zu trinken geben und dir die schönen Fische zeigen...‹
    Ich war stumm vor Erstaunen und Verwunderung. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, daß, was die Zwerge beim Jokerfest gesagt hatten, auch mit mir zu tun hatte. Ich mußte tief durchatmen, ehe ich die nächste Frage stellen konnte.
    ›Wie ... wie ging das Märchen weiter?‹ fragte ich.
    ›Ich habe, wie du weißt, beim Jokerfest auf der Insel nicht jeden Satz mitbekommen. Aber scheinbar wird bei uns Menschen alles, was wir hören, im Bewußtsein aufbewahrt, selbst wenn wir glauben, daß wir uns nicht daran erinnern. Und irgendwann taucht es plötzlich wieder auf. Wie bei mir, als ich vorhin im Kaminfeuer stocherte: Da fiel mir plötzlich ein, was Herz Vier sagte, nachdem Karo Vier von dem Bäcker gesprochen hatte, der dem Knaben das Glitzergetränk und die schönen Fische zeigen würde.‹
    ›Ja?‹
    ›Knabe wird alt und weißhaarig, aber vor seinem Tod kommt unglücklicher Soldat aus Land im Norden‹, sagte der Bäcker-Hans.
    Danach starrte ich lange ins leise glimmende Feuer. Eine Ehrfurcht dem Leben gegenüber erfüllte mich, und dieses Gefühl hat mich seither niemals losgelassen. Jemand hatte mein Leben in einen einzigen Satz gefaßt. Ich wußte, daß der Bäcker-Hans bald sterben – und daß ich der nächste Bäcker von Dorf sein würde. Ich wußte auch, daß ich jetzt das Geheimnis der Purpurlimonade und der magischen Insel weitertragen mußte. Ich würde mein Leben in dem kleinen Haus verbringen, das ich am Abend zuvor zum ersten Mal betreten hatte. Hier würde ich lernen, die Goldfische von der magischen Insel zu versorgen. Und eines Tages – eines Tages würde ein unglücklicher Soldat aus einem Land im Norden kommen und der nächste Bäcker von Dorf werden. Zweiundfünfzig Jahre würden bis dahin vergehen, doch daß er kam, war gewiß.
    ›Auch die Goldfische bilden eine lange Kette von Generationen, bis zurück zu denen, die ich von der Insel mitgebracht habe‹, sagte jetzt der Bäcker-Hans. ›Manche leben nur wenige Monate, aber die meisten viele Jahre. Es ist jedesmal von neuem traurig, wenn einer von ihnen stirbt, denn keiner von ihnen ist ganz wie der andere. Und das ist das Geheimnis der Goldfische, Albert – daß sogar ein kleiner Fisch ein unersetzliches Individuum ist. Deshalb begrabe ich sie im Wald unter den hohen Bäumen. Und ihre stummen Gräber bedecke ich mit einem weißen Steinchen, denn ich finde, jeder einzelne von ihnen hat ein kleines, ihn überdauerndes Denkmal verdient.‹
    Der Bäcker-Hans starb, nur wenige Jahre nachdem er mir von der magischen Insel erzählt hatte. Noch vor ihm war mein Vater gestorben, wie du weißt. So konnte mich der Bäcker-Hans noch adoptieren, und mir fiel zu, was er besessen

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