Das Kartengeheimnis
Ich glaube, er muß früh gesehen haben, wie einsam ich war, wie sehr mir selber überlassen. Wenn ich Hunger hatte, gab er mir ein Stück frischgebackenes Brot. Aber es gab auch leckere Kuchen, und manchmal öffnete er eine Flasche Limonade. Dafür erwies ich ihm kleine Dienste, und als ich knapp dreizehn Jahre alt war, wurde ich sein Geselle. Aber das war Jahre später. Vorher war schon alles andere an den Tag gekommen. Und ich war zu seinem Sohn geworden. Im selben Jahr, als ich Bäcker wurde, starb auch mein Vater, und ich kann wohl sagen, daß er sich zu Tode getrunken hat. Bis zuletzt sprach er davon, daß er Mutter im Himmel wiederbegegnen würde. Meine beiden Schwestern hatten weit weg von Dorf geheiratet, und von meinen zwei Brüdern habe ich seither nie wieder etwas gehört...«
Erst jetzt schenkte Albert Wein in unsere Gläser. Er ging zum Kamin und klopfte die Asche aus seiner Stummelpfeife, füllte sie abermals mit Tabak und zündete sie an. Er blies große Rauchwolken ins Zimmer.
»Der Bäcker-Hans und ich wurden uns also gegenseitig zur Stütze. Und einmal war er auch mein Beschützer: Damals hatten sich gleich vor der Bäckerei vier oder fünf Jungen auf mich gestürzt. Sie hatten mich zu Boden geworfen und prügelten mit den Fäusten auf mich ein. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung. Ich wußte schon längst, wieso so etwas passieren konnte. Es war die Strafe dafür, daß meine Mutter tot und mein Vater ein Säufer war. Aber an diesem Tag kam der Bäcker-Hans aus dem Laden gestürzt, und diesen Anblick werde ich nie vergessen, Ludwig. Er kämpfte mich frei und verprügelte sie allesamt, keiner von ihnen kam ohne Schramme davon. Vielleicht langte er ärger zu als nötig, aber von diesem Tag an hat kein Dörfler mehr gewagt, mich anzufassen.
Nun ja – auf mehr als nur eine Weise wurde dieser Vorfall zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Der Bäcker-Hans zog mich in den Laden, wischte sich seinen weißen Kittel ab und öffnete eine Flasche Limonade, die er vor mir auf den Marmortresen stellte.
›Trink!‹ befahl er.
Ich tat, wie mir geheißen, und hatte das Gefühl, bereits für den Überfall entschädigt worden zu sein.
›Hat’s geschmeckt?‹ fragte er, kaum daß ich den ersten Schluck von dem süßen Getränk heruntergeschluckt hatte.
›Tausend Dank‹, sagte ich nur.
›Wenn diese Limonade gut war‹, fuhr er fast bebend vor Wut fort, ›dann verspreche ich, daß ich dir eines Tages eine Limonade servieren werde, die mehr als tausendmal besser ist.‹
Ich hielt das natürlich für einen Scherz, aber ich vergaß sein Versprechen nie. Es lag daran, wie er in dem Augenblick sprach. Und an der ganzen Situation. Seine Wangen glühten immer noch vor Zorn über das, was auf der Straße passiert war. Außerdem war der Bäcker-Hans kein Spaßvogel...«
Albert Klages räusperte sich und mußte husten. Ich glaubte, er hätte sich am Rauch verschluckt, aber er war wohl nur ein bißchen aufgeregt. Er blickte aus schweren braunen Augen über den Tisch: »Bist du müde, mein Junge? Sollen wir lieber an einem anderen Abend weitermachen?«
Ich trank einen Schluck Wein und schüttelte den Kopf.
»Ich war damals erst zwölf«, fuhr er nachdenklich fort. »Es war alles wie vorher, nur wie gesagt: Keiner wagte mehr, Hand an mich zu legen. Ich ging weiter zu dem Bäcker. Manchmal sprachen wir miteinander, aber es kam auch vor, daß er mir nur ein Stück Brezel gab und mich wieder hinausschickte. Wie alle anderen erlebte ich, daß er stumm sein konnte; und dann erzählte er wieder spannende Geschichten aus seinem Seemannsleben. Auf diese Weise lernte ich viel über fremde Länder.
Ich ging immer zu ihm in die Bäckerei; sonst begegnete ich ihm nie. Doch an einem kalten Wintertag, als ich Steine über das Eis auf dem Waldemarsee warf, stand er plötzlich neben mir.
›Du wirst groß, Albert‹, sagte er.
›Ich werde im Februar dreizehn‹, antwortete ich.
›Ja, ja. Das wird wohl ausreichen. Sag mal – meinst du, du bist jetzt groß genug, um ein Geheimnis für dich zu behalten?‹
›Ich kann alle Geheimnisse behalten, die du mir erzählst, bis ich sterbe‹, sagte ich.
›Das habe ich mir gedacht. Und das ist wichtig, mein Junge, denn es steht nicht fest, ob mir noch viel Zeit bleibt.‹
›Ach, sicher‹, sagte ich schnell. ›Noch sehr viel.‹
Ich fühlte mich auf einmal so kalt wie das Eis und der Schnee um mich herum. Zum zweiten Mal in meinem jungen Leben mußte ich eine Todesbotschaft
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