Das Kartengeheimnis
Schluck.«
»Und auf diesen Flüssen fahren Schiffe?« fragte ich jetzt, um ihm zuvorzukommen.
»Das kannst du laut sagen, mein Junge. Aber sie fahren nicht nur auf den Flüssen, verstehst du, sie fahren auch zwischen ihnen.«
Er hatte sich noch eine Zigarette angezündet, und ich fragte mich noch einmal, ob er den Verstand verloren hatte. Manchmal hatte ich Angst, sein Alkoholkonsum könnte schön langsam sein Gehirn angreifen.
»Wenn du zum Beispiel auf dem Rhein fährst«, fuhr er fort, »dann fährst du im Grunde auch auf Rhone, Seine und Loire. Und auch auf vielen anderen wichtigen Flüssen. Auf diese Weise hast du Zugang zu allen großen Hafenstädten an Nordsee, Atlantik und Mittelmeer.«
»Aber sind diese Flüsse denn nicht durch hohe Berge voneinander getrennt?« fragte ich jetzt.
»Doch«, antwortete Vater. »Und Berge sind im Grunde auch ganz okay – wenn dazwischen nur Schiffe fahren können.«
»Was redest du denn da?« fiel ich ihm ins Wort. Manchmal nervte es mich nämlich ganz schön, wenn er in Rätseln sprach.
»Kanäle«, sagte er. »Hast du gewußt, daß du von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer fahren kannst, ohne auch nur in die Nähe von Atlantik oder Mittelmeer zu kommen?«
Ich schüttelte nur resigniert den Kopf.
»Du kommst sogar bis zum Kaspischen Meer, also bis tief hinein nach Asien«, flüsterte er aufgeregt.
»Echt wahr?« fragte ich jetzt.
»Jawoll! Das ist so wahr wie der St.-Gotthard-Tunnel. Aber auch der ist einigermaßen unglaublich.«
Ich blieb stehen und sah mir den Fluß an. Nun glaubte auch ich, einen schwachen Duft von Tang und Teer erahnen zu können.
»Was lernt ihr denn eigentlich in der Schule, Hans-Thomas?« fragte Vater.
»Stillsitzen«, antwortete ich. »Das ist so schwer, daß wir Jahre brauchen, um es zu lernen.«
»Alles klar... aber meinst du, du hättest auch stillgesessen, wenn dein Lehrer etwas über Europas Wasserstraßen erzählt hätte?«
»Wahrscheinlich«, antwortete ich. »Doch, ich bin ganz sicher.«
Damit war die Zigarettenpause beendet. Wir fuhren weiter am Ticino entlang und kamen an Bellinzona vorbei, einer großen Stadt mit drei riesigen Burgen aus dem Mittelalter. Nachdem mein Vater mir einen kleinen Vortrag über die Kreuzfahrer gehalten hatte, sagte er: »Du weißt, daß mich der Weltraum beschäftigt, Hans-Thomas. Ich interessiere mich für Planeten – vor allem für lebendige Planeten.«
Ich gab keine Antwort. Wir wußten beide gut, daß ihn das interessierte. Er fuhr fort: »Hast du gewußt, daß gerade ein geheimnisvoller Planet entdeckt worden ist, auf dem einige Millionen intelligente Wesen wohnen, die auf zwei Beinen durch die Gegend laufen und ihren Planeten durch ein Paar lebendige Linsen betrachten?«
Ich mußte zugeben, daß mir das neu war.
»Dieser kleine Planet wird durch ein kompliziertes Netz von Bahnen zusammengehalten, auf denen diese cleveren Kerlchen pausenlos in bunten Wagen herumkutschieren.«
»Stimmt das wirklich?«
»Yes, Sir! Das rätselhafte Gewürm auf dem Planeten hat sogar riesige Gebäude mit über hundert Stockwerken errichtet. Und darunter – da haben sie lange Tunnels gegraben, in denen sie in elektrischen Apparaten herumsausen können, die sich auf Schienen bewegen.«
»Bist du ganz sicher?« fragte ich.
»Ganz sicher, ja.«
»Aber... warum hab ich dann noch nie von diesem Planeten gehört?«
»Nun ja«, sagte Vater. »Zum einen ist er erst vor sehr kurzer Zeit entdeckt worden. Und zum anderen fürchte ich, daß ihn außer mir noch niemand kennt.«
»Wo liegt er denn?«
Jetzt trat mein Vater auf die Bremse und fuhr an den Straßenrand.
»Hier!« sagte er und schlug mit der flachen Hand aufs Armaturenbrett. »Das hier ist der seltsame Planet, Hans-Thomas. Und wir sind zwei von diesen intelligenten Kerlchen, zwei, die gerade in einem roten Fiat durch die Gegend rollen.«
Einige Sekunden lang schmollte ich, weil er mich reingelegt hatte. Aber dann ging mir auf, daß er mir nur sagen wollte, wie unfaßbar unser Globus ist, und ich verzieh ihm sofort.
»Die Leute würden austicken, wenn Astronauten einen anderen lebenden Planeten entdeckten«, sagte mein Vater schließlich. »Nur von ihrem eigenen lassen sie sich nicht aus der Fassung bringen.«
Er schwieg lange, ohne wieder loszufahren, deshalb las ich heimlich weiter im Brötchenbuch.
Es war nicht ganz leicht, die vielen Bäcker in Dorf auseinanderzuhalten. Aber bald fiel mir wieder ein, daß Ludwig das Brötchenbuch geschrieben
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