Das katholische Abenteuer - eine Provokation
großgewachsene Frau mit dunklen Augen, ein Mannequin-Typ. Sie arbeitet als politische Beamtin im Bundestag, sitzt in der Ethik-Kommission und ist keine Spur verträumt, sondern wach, lustig, schlagfertig.
Sie kommt aus dem Rheinland, ihr Mann auch, beide waren Ministranten, beide dann plötzlich gar nichts mehr, Post-post-68er-Hedonisten, sagt sie, sie reiste, er malte, und dann wollten sie heiraten, und plötzlich war alles möglich: standesamtlich, buddhistisch, hinduistisch. Glaube heute ist ein Selbstbedienungsladen. Da fiel ihnen ein, ach ja, wir sind ja katholisch, wieso eigentlich nicht?!
Und dann lernten sie ihren Glauben buchstäblich neu kennen. Sie entschieden sich neu. Und der Glaube machte immer mehr Sinn. Heute engagieren sie sich in der Gemeinde, sie nehmen an den »Versöhnungsgottesdiensten« teil, eine besondere Form der Andachtsmeditation, die die Priester der Chemin-Neuf-Gemeinschaft anboten, die Herz-Jesu leiten. »Ich muss mich versöhnen, mit mir und der Welt«, sagt sie. Dazu gibt es Rituale in der Kirche, Kerzen und Tische und Schreibzeug. Man schreibt Versöhnungsbriefe, unter Umständen auch an sich selber.
Sie und ihr Mann beten gemeinsam, sie beten frei und das laut, »das ist erst mal eine Überwindung«. Sie haben zwei kleine Söhne, die an diesem Nachmittag zum Weihnachtsspiel beitragen. Die Chemin-Neuf-Brüder bieten Exerzitien an für Eheleute, die Religion spielt eine zentrale Rolle für beide. Ab und zu zieht sie sich allein zurück in ein Kloster, um »Raum in sich zu schaffen«. Sie macht einen glücklichen Eindruck.
Die Chemin Neuf sind eine charismatische Bewegung aus Lyon, eine Gemeinschaft, in der Verheiratete leben und Singles und zölibatäre Männer und Frauen, und sie arbeiten ökumenisch. Der Papst hat die charismatischen Bewegungen innerhalb der katholischen Kirche als die große Zukunft bezeichnet,
denn sie bringen das Bekenntnis und das Glühen, mit dem der Kessel der Kirche neu befeuert werden muss. Pater Christophe, der an diesem dritten Adventssonntag über die Freude gepredigt hat – die Messgewänder sind rosa an diesem Tag –, glaubt, dass er ohne den Gemeinschaftsgedanken der Chemin Neuf nicht Priester geworden wäre.
An diesem Nachmittag zwischen Erbseneintopf und Krippenspiel, zwischen Alt und Jung und West und Ost, zwischen etablierten Karrieren und junger Bohème, erlebe ich eine schöne, friedliche, religiöse Utopie im Ostteil jener Stadt, die sich in einer Volksabstimmung gegen den Religionsunterricht entschieden hat.
Der Katholizismus als Volksreligion mag ausgespielt haben in Deutschland, doch als Entscheidungsreligion ist er spannend, und er sucht neue Wege.
Die »Mystische Nacht« bei Hamburger Dominikanern
Die Dominikaner zu Sankt Sophien in Hamburg zelebrieren am 1. Dezember 2010 eine »Mystische Nacht« unter dem so richtigen und wichtigen Motto »In der Tiefe gewinnt der Mensch Höhe«. Sie wird begangen mit Gesängen nach Kompositionen von Heinrich Schütz und mit Texten von Meister Eckhart. Worte wie diese: »Willst du daher vollen Trost und ganze Freude in Gott finden, dann sieh zu, dass du leer bist von allem Trost der Geschöpfe.«
Das klingt wie eine Anweisung aus einer Vipassana-Meditation. Klingt also für viele mittlerweile vertrauter als das »Vater unser« oder das »Te deum«. Wir beten anders als früher, meditativer, und der Mystiker Eckhart passt in diese neue Spiritualität. »Denn fest steht: Solange dich das Geschöpf tröstet und trösten kann, so lange findest du niemals richtigen Trost. Sobald dich aber nichts trösten kann als Gott allein, dann tröstet dich in Wahrheit Gott und mit ihm und in ihm alles, was Glück ist.«
Und das wäre dann nicht mehr fernöstliche Meditationspraxis, sondern christliche Versenkung, von der wir lernen können in den neuen Zeiten. Die Predigten Eckharts – er predigte als einer der Ersten in deutscher Sprache – wurden in einigen Aussagen als häretisch erkannt und 1327 von der päpstlichen Theologenkommission in Avignon verhandelt.
Ich hatte mich mit dem großartigen Philosophie-Historiker Kurt Flasch über Meister Eckhart unterhalten; er hatte eine Biografie über den Mystiker verfasst. Flasch, der einst selbst Dominikaner werden wollte, in den folgenden Jahrzehnten allmählich vom Glauben abkam und in unserem Gespräch durchaus sarkastisch über die Kirche herziehen konnte, sprach mit großer Innigkeit über Eckhart.
ICH: Meister Eckhart ist der stille Star der weltweiten
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