Das katholische Abenteuer - eine Provokation
natürlich in allen unseren Handlungen wieder«.
Wir leben in einem merkwürdigen Zwischenlicht. Es ist ja längst nicht mehr so, dass sich Gläubige und Atheisten als kompakte Lager gegenüberstehen, sondern Gläubige dämmern hinüber in den Unglauben, und Agnostiker lassen sich für Momente vom Glauben erfassen, sowohl innerhalb wie außerhalb der beiden großen Kirchen.
Der Glaube sucht sich Metamor phosen, entlegene Spielfelder, Theaterbühnen, Romane und Gedichte und Kinofilme, um uns anzusprechen. Und sicher sucht er immer wieder die großen Feste, etwa das jähe Spektakel-Christentum bei Papstbesuchen
oder Feiertage wie Ostern oder Weihnachten. Nicht jedem ist das recht.
Zu einer regelrechten Orgie der Beschimpfungen kam es in unserer Kirche Nossa Senhora da Luz in Rio de Janeiro, als unser Pfarrer während der Christmette in die vollgepackte kleine Kirche rief: »Wer sonst nicht kommt, kann auch jetzt wegbleiben.« Wir hatten Freunde aus Deutschland zu Besuch. Die wollten wissen, was los ist. Warum schreit der so? »Er macht sich Sorgen um die Ungläubigen«, sagte ich. Sie waren beeindruckt.
Bei uns ist man da weniger wählerisch. Bei uns kann man es sich auch nicht erlauben, wählerisch zu sein. Die meisten Pfarrer freuen sich wohl darüber, dass wenigstens einmal im Jahr die Bude voll ist.
Ansonsten? Man wendet sich an Gott bei Taufen, sicher ist sicher, der Nachwuchs soll die allerbesten Chancen haben, und Taufpartys sind sowieso die schönsten Society-Events, die man sich vorstellen kann – ich habe mal einer in England beigewohnt, auf der sich das halbe Kabinett, einige Oppositions-Häuptlinge sowie mehrere Chefredakteure auf einer Wiese verloren und zwischen Hecken konferierten, so als ob der Pate noch mal gedreht werden müsste.
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Bei Taufen also kommen wir zusammen. Sowie bei Beerdigungen, denn selbst unserer restlos aufgeklärten Gesellschaft wird dann klamm und bang, weil sie nicht weiß, wohin die Reise geht nach dem Tode. Und so möchte man dann doch das Familienmitglied oder Robert Enke dem Schutz des Höchsten anempfehlen und möchte im Hamburger Michel trauern mit Helmut Schmidt um seine Frau Loki, kollektiv. Man will zusammenrücken. Wir brauchen Gott also am Anfang des Lebens und am Ende. Zwischendrin soll er sich bitteschön so weit wie möglich raushalten, ach so, ja, es sei denn, es geht um eine Hochzeit in Weiß.
Wir haben ihn ziemlich ruhiggestellt, den lieben Gott, ins Nachtprogramm, ins Wort zum Sonntag, als Bremse zum Spätfilm. Rund die Hälfte der Bevölkerung ist zwar noch pro forma Mitglied einer der beiden christlichen Kirchen, aber nur zehn Prozent davon gehen in die Gottesdienste, und sie werden sich hüten, darüber in der Öffentlichkeit zu reden, denn es gibt nichts, was uncooler und weniger sexy wäre.
Glaubensorte sind wie Flöße im Alltag, mal sind sie klein und unscheinbar, mal öffentlich. Auf jeden Fall sind sie nicht mehr nur die Kirche. Es ist gut, dass wir sie haben, die Kirche, das Mutterschiff, und dass wir festgelegte Liturgien haben, in denen der Glaube Form findet. Doch dann gibt es diese vielen Beiboote.
Eine Reise durch Glaubenslandschaften führt zu unerwarteten Begegnungen. Zum Beispiel dieser hier:
Die Fremde im Zug
Ich komme von der Frankfurter Buchmesse und besteige den Zug nach Hamburg spät. Ein fast leeres Abteil.
Am Fenster sitzt eine junge Frau. Sie trägt Pluderhosen und Hippie-Strickweste und eine Strickmütze mit Troddeln. Sie liest in einem kleinen Handbuch. Ich lege nach einer Weile meine Zeitung weg und döse mit geschlossenen Augen. Ich höre den gleichmäßigen Schwellenschlag des Zuges, und dann, zaghaft, ein leises Schluchzen. Ich öffne die Augen, linse hinüber zu der jungen Frau. Tatsächlich, sie wischt sich verstohlen eine Träne aus den Augen. Sie schaut in die dunkle Nacht hinaus, ich sehe ihr Spiegelbild im Fenster.
Sie schlägt erneut ihr Büchlein auf, dort, wo sie mit ihrem Zeigefinger die Stelle markiert hat, die sie zuletzt gelesen hat. Es muss eine todtraurige Geschichte sein. Was ist es wohl? Anna Karenina ? Dazu ist es nicht voluminös genug. Love Story wird sie wohl kaum lesen, so, wie sie gekleidet ist. Wieder lässt sie das Buch sinken. Ein tiefes Seufzen. Erneutes Schluchzen.
Da geht es um mehr als um Literatur, vermute ich. Da muss ein gewaltiger Kummer zu bewältigen sein. Mir ist unbehaglich. Ich kann dieses Unglück nicht ignorieren. Ein Mensch weint. Ich bin der einzige andere in diesem
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