Das katholische Abenteuer - eine Provokation
an, wer sich die Haare schneiden lässt, kriegt fünfzig Euro, eine Werbeaktion, keiner hat dazu Lust, die Haare sind ihnen heilig wie das ganze Spiel, und nun soll Schluss sein? Sie sind zusammengewachsen in den Monaten und Jahren der Vorbereitung, es war ein großer Teil ihres Lebens.
Tatsächlich, sie haben in der Passion gelebt, in dieser Aufführung gelebt, das ganze Dorf tut es, in vielen Fällen standen bereits ihre Eltern oder Großväter auf der Bühne. »Die Rolle verändert einen schon«, sagt Mayet. Er glaubt, dass sich seine Frömmigkeit vertieft hat. Jesus sein in dieser Passion, natürlich geht das durch die Haut, geht in die Seele.
Die Inszenierung wird immer wieder von Tableaux vivants, von lebenden Figurengruppen, unterbrochen, von gestellten Bildern nach Motiven aus dem Alten und dem Neuen Testament, raffiniert ausgeleuchtet und strahlend, als hätte sie der Theatermagier Bob Wilson nach Träumen von Salvador Dalí erdacht. Moses, Daniel in der Löwengrube, Kain, der Abel erschlägt, in surrealistischer Bildsprache, unter Engelsschwingen, roten Felsen, blauen Bächen, sich ringelnden gelben Schlangen.
Die Chöre, die der Oberammergauer Rochus Dedler unter hörbarem Einfluss Haydns und Mozarts im frühen 18. Jahrhundert komponierte, sind von großer Würde und Schlichtheit. Da entsteht ein Gesamtkunstwerk in dieser Oktobernacht 2010, das eine welterschütternde Botschaft enthält: die des Opfers und der Liebe. Und der Verzweiflung – Christian Stückl spürt besonders den Gewissensqualen des Verräters Judas nach, der enttäuscht ist darüber, dass Jesus nicht die Macht übernimmt – ist er denn nicht göttlich? – und sich und ihm die Agonie und die Schwäche erspart. Judas ist ein Verräter aus enttäuschter Bewunderung und Liebe. Jesus opfert sich auf, das war damals
ein Skandal, und heute ist es noch immer einer.
An diesem letzten Abend feiern 4000 Besucher mit den Darstellern, und schließlich kommt Stückl auf die Bühne, und alle singen »Großer Gott wir loben dich« und später »Shma’Israel«.
Was für ein ergreifender Abschied unter Hunderten von Kerzen. Rund eine halbe Million Menschen aus aller Welt, viele aus den USA und aus Japan, haben die Passion in dieser Saison miterlebt, zehnmal mehr hätten kommen wollen. Volksreligion als theatralische Sendung, ein Dorf spielt und lebt und arbeitet die Passionsgeschichte, glutvoll in einer Kultur allgemeiner Glaubenserschlaffung.
Der Abend begann mit Jesus und der Bergpredigt und der Umwertung aller Werte. Nicht mehr »Auge um Auge«, sondern »liebe deinen Nächsten wie dich selbst«. Und er endete mit der Selbstaufopferung und der triumphalen Auferstehung, also mit der Geburt des Christentums aus einer jüdischen Bewegung.
Auf der nächtlichen Fahrt zurück berichtet der Nachrichtensprecher über die Rede des Bundespräsidenten am gleichen Tag und dessen Feststellung, dass der Islam »inzwischen auch zu Deutschland« gehöre, und natürlich geht mir sofort der in den Tagen zuvor heftig diskutierte Fall der Steinigung der iranischen Ehebrecherin durch den Kopf, das alte Gesetz, das auch die Schriftgelehrten fordern, und Jesu Antwort »Wer aber ohne Sünde unter euch ist, werfe den ersten Stein«, und ich denke weiter an die Scharia, die ja auch wie selbstverständlich zum Islam gehört, und der kommt mir in dieser Nacht dann doch sehr fremd vor.
Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland?
So selbstverständlich im Moment eher nicht. Und ich wache auf aus dieser magischen Nacht und der Verbundenheit mit dem, was ich gerade erlebt habe, und bin mir bewusst, dass ich gerade aus der Wahrheit zurückkehre ins Land der politischen Lüge und der religiös indifferenten Zweckmäßigkeit und der rhetorischen Ingenieurskunst nützlicher Phrasen.
Der Dichter
Da Dichtkunst und Religion aus einer gemeinsamen Wurzel kommen, kann man dem Verbleib des Glaubens heute wohl am zuverlässigsten in der modernen Lyrik nachspüren. Religion sind Gedichte, heißt es bei Les Murray. »Sie bringen unseren Tages- und Traumgeist in Einklang.« Ja, der Glaube findet Asyl in der Dichtung.
Ich rufe Michael Krüger am Tag vor Heiligabend an. Er sitzt noch in seinem Büro, räumt in Stille den Schreibtisch auf, vor seinem Panorama-Fenster die tiefverschneite Riesenbuche, der er ein wunderbares Gedicht gewidmet hat, es bleibt einiges liegen, wenn man fünf Verlage gleichzeitig führt und zwei Literaturmagazine herausbringt und nebenbei Gedichte und
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