Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
in der neu geschaffenen Kolonie Grunewald errichtet, ruhte es in einem zweitausend Quadratmeter großen Park, der wohl eher aus Desinteresse denn Fürsorge nie verändert worden war und deshalb langsam ein Fall für die Denkmalpflege wurde. Spaziergänger und Führungen durch die ehemalige Villenkolonie machten hier mit
Vorliebe Halt. So hatte ich eines stillen Nachmittags am offenen Fenster durch die penetrante Stimme eines vor Sozialneid fast vergehenden Stadtbilderklärers erfahren, dass dieses Haus, ebenso wie das ganze Viertel, durch eine der größten Grundstücksspekulationen der wilhelminischen Epoche entstanden war.
Jetzt war die Villa alt, fraß Unsummen und keuchte das Geld durch die Ritzen und Schornsteine, die berstenden Rohre und das immer wieder undichte Dach geradezu asthmatisch aus. Nie im Leben wäre ich freiwillig hierhergezogen. Man saß, in familiärem wie auch in städtebaulichem Sinn, immer auf dem Präsentierteller. Schließlich wurde hier nicht nur gearbeitet. Wir wohnten auch hier.
Es kam nicht oft vor, dass wir ungebetene Gäste hatten. Aber sie wurden immer frecher. Weder durch verschlossene Tore, hohe Hecken noch schmiedeeiserne Jugendstilzäune ließen sie sich zurückhalten.
Doch die Frau, die sich durch den Garten schlich, wollte nicht in unseren Garten. Sie kümmerte sich nicht um den Park, sondern stand unter einem der Bürofenster und versuchte vergeblich, einen Blick hineinzuwerfen. Ich ging auf sie zu und rief sie an. Erschrocken drehte sie sich um. Sie war klein, steinalt und wirkte sehr, sehr arm.
»Pascholsta«, sagte sie und drückte eine dunkle Plastikhandtasche an die Brust. »Ich suche Utz.«
Ich blieb erstaunt stehen. »Herrn von Zernikow?«
Sie nickte. »Ist er da?«
Deutsch kam ihr schwer über die Zunge. Eine Russin, vermutete ich.
»Was wollen Sie von ihm?«
Sie kramte in ihrer Tasche und zog einen Zettel hervor, den sie mir überreichte. Es war ein mehrfach gefaltetes Papier, ein Durchschlag, wie er bei uns im Computerzeitalter schon lange nicht mehr erstellt wurde. Die Buchstaben waren kyrillisch.
»Was ist das?«
»Bescheinigung«, sagte die Frau. »Soll er unterschreiben.«
»Das wird er vermutlich nicht tun. Um was geht es denn?«
Ich faltete den Zettel zusammen und reichte ihn ihr. Doch sie weigerte sich, ihn anzunehmen.
»Um Natalja«, flüsterte sie. Sie war nervös. »Natalja Tscherednitschenkowa. Es ist wichtig.«
»Warum?«
Sie lächelte und zeigte dabei vier einsame Vorderzähne. »Eine Sache zwischen Utz und Natalja.«
Ich kannte wenige Leute, die Utz beim Vornamen nannten. Eine alte Russin wäre die Letzte, von der ich diese Anrede erwartet hätte.
»Geben Sie ihm«, bat sie mich. »Es ist wichtig.«
»Brauchen Sie Hilfe, Herr Vernau?« Walter stand an der Ecke. Er trug noch den schwarzen Hut von der Beerdigung, also musste auch die Freifrau gerade eingetroffen sein.
»Nein«, rief ich zurück. »Die Dame wollte gerade gehen.«
Ich bot ihr meinen Arm an und geleitete sie zur Gartenpforte. Dort blieb sie stehen. »Darf ich … das Haus sehen?«
Ich sah zur Eingangstür. Walter stand dort wie ein Zerberus, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete missbilligend den ungebetenen Besuch.
»Nur einen Blick«, sagte sie. »Ich will es Natalja erzählen.«
Ich ließ die rätselhafte Fremde los und nickte Walter zu. Unwillig trat er einen Schritt zur Seite. Sie ging in die Eingangshalle und sah sich konzentriert um. Als ob sie jede Einzelheit fotografisch in ihrem Gedächtnis speichern wollte. Die schweren Kristalllampen, die breite Treppe, die alten Teppiche. Die großformatigen Landschaftsbilder an der Seidentapete, die jugendstilverglasten Fenster. Dann fiel ihr Blick auf Walters Kabuff neben dem Eingang und den Überwachungsmonitor. Sie tastete sich rückwärts zur Tür.
»Danke«, sagte sie. »Es ist tatsächlich so schön, wie Natalja immer erzählt hat.«
»Natalja?«
Aaron von Lehnsfeld stand hinter uns. Ich war verblüfft, wie leise er sich uns genähert hatte.
Die Frau drehte sich rasch zu ihm um. Ihre Schultern strafften sich, ihr Blick wurde streng. »Natalja Tscherednitschenkowa. Kennt man den Namen nicht mehr? In diesem Haus?«
Es kam zum ersten und meines Erachtens auch einzigen Moment der minimalen Verbrüderung zwischen Walter, Aaron und mir. Wir sahen uns ratlos an.
»Sollten wir den Namen denn kennen?«, fragte ich.
Walter trat auf sie zu. »Ich denke, Sie sollten gehen. Die Besichtigung ist beendet.
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