Das Krähenweib
Angeln knarrten laut und ein modriger Geruch schlug ihr entgegen.
»Ist hier wer?«, fragte sie, doch ihre Stimme verklang ohne Antwort in den leeren Räumen. Im Lichtschein, der hinter ihr durch die Tür fiel, konnte sie Regale, einen schiefen Tisch und zwei Stühle erkennen. Sie entdeckte sogar Schüsseln, Töpfe und Tiegel mit Kräutern und anderen Vorräten, aber alles war vollkommen verstaubt. Lange Spinnweben baumelten von der Decke. Wie lange mochte dieses Haus schon leer stehen?
Annalena trat ein und machte sich sogleich daran, das Haus zu erkunden. Sie hob Deckel von den Töpfen, doch die meisten von ihnen waren leer. In einigen lag noch etwas Weizen und Hirse, genug für ein bescheidenes Mahl.
Als sie schließlich in die Schlafkammer trat, erstarrte sie nach dem ersten Schritt. Dann wich sie erschrocken zurück. Schon oft hatte sie den Tod gesehen, aber nicht so.
Die Hausbewohner hatten ihre Wohnstätte wohl doch nicht verlassen. In dem breiten Bettkasten lagen auf durchlöcherten Strohsäcken zwei Skelette. Ein Mann und eine Frau, wie man an den mottenzerfressenen Kleidern erkennen konnte. Sie umarmten sich, als hätte einer den anderen festhalten und davor bewahren wollen, ins Reich der Toten zu gehen.
Das wird aus uns allen, dachte sie, als sie die bleichen Knochen betrachtete. Das wäre aus mir geworden, wenn ich bei Mertens geblieben wäre.
Als der erste Schrecken von ihr gewichen war, fragte sie sich, was die beiden getötet haben mochte. Hatte die Pest sie gleichzeitig dahingerafft? Waren sie im Schlaf ermordet worden? Oder war einer von ihnen gestorben und der andere dem geliebten Menschen freiwillig gefolgt, weil er nicht ohne ihn leben konnte?
Dieser letzte Gedanke rührte sie zutiefst und trieb Tränen in ihre Augen. Seinem Ehegatten in den Tod zu folgen, weil das Leben ohne ihn sinnlos wurde, war für sie unvorstellbar. Gab es eine solche Liebe überhaupt?
Ich muss sie begraben, ging es Annalena durch den Sinn. Es ist meine Christenpflicht.
Sie verließ das Haus und suchte nach einem geeigneten Platz für ein Grab. Sie entdeckte einen Apfelbaum, an dem noch ein paar vertrocknete Früchte des vergangenen Jahres hingen. An den Ästen breiteten sich aber auch schon wieder die ersten neuen Knospen aus.
Leben und Sterben an einem Baum. Wenn ich ein Grab für mich wählen könnte, würde ich mir diesen Platz wünschen.
Mit dem Spaten, den sie im Schuppen neben dem Haus fand, machte sie sich an die Arbeit. Ein Geräusch hinter ihr ließ sie plötzlich zusammenfahren. Es klang wie der Schrei eines Kindes.
Erschrocken wirbelte Annalena herum und erblickte eine Katze. Ihr Fell war braun gestreift und ihre Augen leuchteten grün wie zarte Maiblätter.
»Mach nicht so ein Geschrei«, rief Annalena der Katze zu. »Geh lieber Mäuse fangen. Im Haus gibt es sicher etliche von ihnen.«
Aber das Tier blieb sitzen und musterte sie weiterhin mit seinen grünen Augen.
Annalena wandte sich ihrem Spaten zu, doch als sie sich bückte, verspürte sie plötzlich einen Schwindel, der sie dazu zwang, sich eine Weile niederzusetzen. Ihr Magen schmerzte vor Hunger, und ihr Blick wanderte hinauf zu den Äpfeln, doch diese waren wirklich nicht mehr genießbar.
Nachdem sie ein paarmal tief durchgeatmet hatte, ging es ihr wieder besser und sie setzte ihre Arbeit fort. Tief wurde die Grube nicht, aber für die Knochen würde es reichen.
Als sie fertig war, kehrte sie ins Haus zurück. In der Schlafstube hüllte sie die Skelette in das fleckige Betttuch und trug sie nach draußen. Die Katze war immer noch da. Sie begrüßte Annalena und ihre Fracht mit einem klagenden Maunzen.
»Wenigstens einer, der ihnen ein Lied singt«, murmelte Annalena und legte die Knochen, die leicht wie Holzscheite waren, vorsichtig in die Grube. Dann schaufelte sie Erde darüber.
Als letztes brach sie zwei dünne, abgestorbene Zweige vom Apfelbaum und band sie mit einem kleinen Stück Laken, das sie zurückbehalten hatte, zusammen. Das Kreuz steckte sie ans Kopfende des Grabes und senkte den Kopf zum Gebet.
Als der Abend über das Gehöft hereinbrach, entfachte Annalena ein Feuer und bereitete sich etwas von der Hirse zu. Draußen vor dem Haus hatte sie noch ein paar Wurzeln und Kräuter gesammelt, mit denen sie den Brei würzte. Als sie ihren Hunger gestillt hatte, überlegte sie, ob sie eine Weile hierbleiben sollte.
Mitten im Wald findet mich niemand, und es gibt sicher auch niemanden, der Anspruch auf das Gehöft erhebt. Ich
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