Das Krähenweib
könnte hier warten, bis der Sommer kommt und dann weiterziehen. Oder hierbleiben und von dem leben, was der Wald mir bietet.
Während diese Gedanken in ihrem Kopf kreisten, übermannte wohlige Schwere ihre Glieder. Zum ersten Mal seit Wochen fror und hungerte sie nicht. Und sie brauchte sich auch keine Gedanken um die Wölfe zu machen.
Da sie nicht im Bett der Toten liegen wollte, suchte sie sich aus einer Truhe ein paar Decken und bereitete sich neben der Esse ein Lager. Obwohl mottenzerfressen, war an ihnen genug dran, um den harten Boden abzupolstern. Während sie die Augen schloss, vernahm sie von draußen den Ruf eines Kauzes und erlaubte sich, von einem Leben in der Sicherheit dieses Hauses zu träumen.
Am nächsten Morgen erwachte sie, als Sonnenschein ihre Augen traf. Annalena erhob sich von ihrem Lager und wischte sich die klebrigen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Zum ersten Mal hatte sie tief und traumlos geschlafen und fühlte sich gestärkt. Sie sah sich mit einem glücklichen Lächeln in der Küche um. Sie konnte sich gut vorstellen, hier auch morgen, übermorgen oder in einem Jahr aufzuwachen.
Hinter dem Haus hatte sie einen Brunnen gesehen, und da sie schon lange kein Bad mehr genommen hatte, beschloss sie, sich Wasser zu holen und den Schmutz der vergangenen Tage abzuwaschen.
Mit einem hölzernen Eimer in der Hand stiefelte sie durch das nasse Gras, umgeben von einem kristallenen Glitzern, als sich die Sonnenstrahlen in den Tautropfen auf den grünen Stengeln brachen. Kurz fragte sie sich, wo wohl die Katze abgeblieben war, dann stapfte sie weiter zum Brunnen.
So könnte ich wirklich leben, dachte sie, und in diesem Augenblick fand sie Frieden.
Peter Mertens trieb sein Pferd auf den Waldrand zu, dann trat er ihm heftig in die Flanken, als es nur vorsichtig durch das hohe Gras laufen wollte.
Wo ist dieses verdammte Weibsstück bloß?
Eigentlich hätte er Annalena ziehen lassen sollen, doch Zorn und Rachegefühle ließen das nicht zu. Sie hatte ihn in Walsrode zum Gespött gemacht. Dafür würde sie bezahlen!
Gegenüber seinem Dienstherrn hatte er natürlich Sorge um Annalena vorgeschützt und um ein paar freie Tage gebeten. Meister Hans hatte das freilich nicht gern gesehen. Auch ohne Gefangene, die vor der Hinrichtung standen, hatte er alle Hände voll zu tun, denn eine seltsame Seuche befiel das Vieh, und er musste es in seiner Funktion als Froner beseitigen. Dazu brauchte er jeden Gesellen. Doch er war auch nicht kaltherzig und so hatte er schließlich zugestimmt und ihm sogar eines seiner Pferde geliehen.
»Eine Woche«, hatte er gesagt. »Wenn du sie bis dahin nicht gefunden hast, kommst du zurück!«
Mertens hatte genickt und sich dann ausgerüstet mit Proviant aufs Pferd geschwungen. Nun war er bereits mehrere Wochen unterwegs, doch noch immer hatte er keine verlässliche Spur. Er hatte das Moor in der Nähe der Stadt abgesucht und sich schließlich dem Wald zugewandt. Nicht einmal einen Stofffetzen hatte er gefunden.
Er hatte ihre Verwandten bereits ohne Erfolg aufgesucht und wusste, dass seine Suche inzwischen sinnlos war, doch der brennende Hass in ihm ließ ihn einfach nicht zur Ruhe kommen. Und so ritt er weiter.
In einem ausgedehnten Waldstück kam er an ein Gehöft. Es wirkte unbewohnt, doch vielleicht hatte Annalena hier Unterschlupf gesucht. Erfüllt von grimmiger Hoffnung hielt er auf das Haus zu.
Als er sein Pferd zum Stehen brachte, fragte sich Mertens, wie das Wiedersehen zwischen ihm und Annalena aussehen mochte. Würde sie sich ihm an die Brust werfen und um Verzeihung bitten? Würde sie starr vor Schreck sein? Oder würde sie sogar versuchen, ein zweites Mal zu fliehen? Noch einmal lasse ich dich nicht fliegen, Vögelchen, eher breche ich dir die Flügel, dachte er sich mit einem spöttischen Grinsen und stieg aus dem Sattel.
Er lauschte, doch außer dem Raunen des Windes, der durch das Gras strich, war nichts zu hören. Also trat er durch die Haustür. Der Geruch von Rauch und Hirsebrei strömte ihm entgegen. Auf dem Boden konnte er ein paar Fußabdrücke ausmachen. Kein Zweifel, hier hatte jemand übernachtet.
Er betrachtete kurz die Decken auf dem Boden und den Topf, in dem noch Breireste klebten. Dann ging er weiter zur Schlafkammer. Die Schlafstelle war leer, die Strohsäcke von Motten zerfressen.
Hier gab es dieselben Fußspuren wie in der Küche. Zierliche Spuren, die durchaus einer Frau gehören konnten. Mertens kniete sich hin und berührte sie. Ein
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