Das Krähenweib
machten sie schwindlig, sie wollte sich an dem Gras unter ihren Händen festhalten. Sie meinte, wieder als Kind durch die Wälder um Lübz zu laufen. Ihre Geschwister waren bei ihr, und sie alle träumten vom Erwachsensein, vom Heiraten und einem glücklichen Leben. Das Grün des Blattwerks beschützte sie vor der Niedertracht einer Welt, zu der sie niemals richtig gehören würden.
Kinderlachen tönte an ihre Ohren, und als sie den Blick hob, erblickte sie bunte Bänder inmitten des Blattgrüns. Das Sonnenlicht stach ihr in die Augen und alles drehte sich noch schneller.
Ein Tanz, dachte sie. Ich tanze und brauche nur meine Arme ausbreiten, um fliegen zu können.
Sie fühlte, wie ihr Körper schwerelos wurde, und für einen kurzen Moment fühlte sie reine Freude. Dann wurde das Kinderlachen plötzlich schrill und Dunkelheit umfing sie.
Ich fliege wie eine Krähe, frei, endlich frei …
Schließlich griff das Nichts nach ihr und zerrte sie fort.
4. Kapitel
D as Gespann quälte sich den Waldweg hinauf.
Für April war es eigentlich viel zu kalt, und das Wetter für eine Reise denkbar ungeeignet. Sonnenschein schlug unverhofft in Regen um, Windstille in Sturm. Doch der Mann auf dem Kutschbock des Planwagens hatte keine andere Wahl gehabt.
Seine Schwester in Dömitz hatte krank darniedergelegen und seinen Beistand erfragt. Mittlerweile ging es ihr wieder besser, und Magnus Seraphim wollte so schnell wie möglich nach Oranienburg zurückkehren. Er war zwar Händler, aber das Reisen überließ er mittlerweile getrost den Jüngeren. Er freute sich darauf, seinen Rücken nach der tagelangen Reise an die Steine der Esse zu lehnen und sich durchzuwärmen. Vielleicht schon in wenigen Stunden, wenn ihn die Stadtwächter heute Abend noch einließen.
Das Wiehern seiner Pferde ließ ihn jedoch aus seinen Gedanken aufschrecken. Etwas lag am Wegrand. Zunächst wirkte es wie ein großes Tier, doch bei näherem Hinsehen erkannte er, dass es sich um eine in schmutzige Kleider gehüllte Frau handelte.
»Brrr!« Er brachte die Kaltblüter abrupt zum Stehen, kletterte vom Kutschbock herunter und lief zu ihr. Ihr Gesicht war eingefallen und bleich, dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Sie atmete flach, war aber zweifelsohne noch am Leben. Ihre Stirn glühte wie das Höllenfeuer und ihre Glieder zitterten, als läge sie im Schnee.
Seraphim zögerte nicht lange. Er hob sie auf seine Arme und trug sie zum Wagen. Dann holte er den Lederbeutel, der am Kutschbock hing und flößte ihr mühsam etwas Wasser ein. Wo mag sie hergekommen sein, fragte er sich. Ist sie vielleicht überfallen worden?
Der Händler bettete ihren Kopf auf eine Decke, eine zweite wickelte er ihr um den Leib. Dann schwang er sich wieder auf den Kutschbock und ließ die Peitsche über den Köpfen der Pferde knallen. Maria wird nicht erfreut sein, wenn ich ihr solch einen Besuch bringe, dachte er, als der Wagen wieder losrumpelte. Aber es ist meine Christenpflicht, dem Mädchen zu helfen.
Zwei Stunden später leuchteten Seraphim aus der Ferne die Lichter des Oranienburger Schlosses entgegen. Die Stadt lag ruhig im Mondschein. Der Nachtwächter hatte sich gewiss schon in sein Quartier zurückgezogen und die Tore waren fest verriegelt.
Dem Kaufmann machte es eigentlich nichts aus, im Freien zu kampieren, aber diesmal hatte er eine Kranke bei sich. Seit er sie aufgelesen hatte, hatte sich ihr Zustand nicht verändert. Ab und an gab sie ein Stöhnen von sich, aber das war alles.
Vor dem Tor machte er halt und stieg vom Kutschbock. Wie es nicht anders zu vermuten war, hatten sich die Wächter in ihre Stube zurückgezogen, wo sie dem sauren Wein zusprachen, der an die Bediensteten der Stadt ausgeteilt wurde.
Sicher würde es ihn einige Taler kosten, die Wachen dazu zu bewegen, das Tor für ihn zu öffnen. Aber was war schon Geld, wenn es um ein Menschenleben ging? Wenn Seraphim einst vor Gott trat, wollte er nicht Geiz vorgeworfen bekommen. Und schon gar nicht, dass er eine Hilfsbedürftige im Stich gelassen hatte.
Er hämmerte gegen das Tor und trat dann einen Schritt zurück. Wenig später hörte er es rumpeln, dann wurde eine kleine Sichtluke im Torflügel geöffnet und ein Mann schaute nach draußen. Seine Weinfahne schlug Seraphim entgegen.
»Guten Abend«, grüßte er dennoch freundlich.
»Was gibt es?«, fragte der Wächter unwirsch.
»Ich wollte euch bitten, mich einzulassen. Die Nacht ist kalt, ich habe einen langen Weg hinter mir und mein Weib
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