Das krumme Haus
vorgekommen war. Aber warum…? Sophia sprach meinen Gedanken aus, bevor ich ihn in Worte fassen konnte.
»Aber warum hat sie Josephine mitgenommen?«
»Warum hat sie die Morde begangen?«, fragte ich. »Was für ein Motiv hatte sie?«
Doch während ich sprach, erkannte ich die Wahrheit. Ich merkte, dass ich immer noch ihren zweiten Brief in der Hand hielt. Ich betrachtete ihn und gewahrte auf dem Umschlag meinen eigenen Namen.
Dieser Umschlag war dicker und fühlte sich härter an als der andere. Ich glaube, ich wusste, was darin war, ehe ich ihn öffnete, Josephines kleines schwarzes Notizbuch fiel heraus. Ich hob es vom Boden auf. Es lag aufgeschlagen in meiner Hand, und ich sah die Eintragung auf der ersten Seite…
Wie aus weiter Ferne hörte ich Sophias Stimme, klar und beherrscht: »Wir haben uns geirrt. Tante Edith hat es gar nicht getan.«
»Ja«, sagte ich.
Sophia schmiegte sich an mich und flüsterte: »Es war… Josephine, nicht wahr? So ist es also… Josephine.«
Gemeinsam blickten wir auf die erste Eintragung in dem schwarzen Büchlein, geschrieben in ungelenker, kindlicher Handschrift:
Heute habe ich Großvater getötet.
26
S päter wunderte ich mich, dass ich so blind hatte sein können. Die Wahrheit hatte so klar zu Tage gelegen. Josephine, nur Josephine verfügte über die notwendigen Eigenschaften, um alle Fragen zu beantworten. Ihre Eitelkeit, ihr maßloser Geltungsdrang, ihre Redelust, das Herausstreichen ihrer eigenen Gescheitheit und ihre abfälligen Bemerkungen über die Dummheit der Polizei – all das hatte für ihre Schuld gesprochen.
Ich hatte sie nie in Betracht gezogen, weil sie noch ein Kind war. Aber Kinder haben schon manchmal einen Mord begangen, und dieser Mordfall lag im Bereich eines Kindes. Ihr Großvater hatte selbst das Verfahren angegeben, hatte ihr tatsächlich die Handhabe geliefert. Sie musste nur darauf achten, dass sie keine Fingerabdrücke hinterließ, und darüber hatte sie jeder Kriminalroman belehren können. Auch sonst stammte ihr Wissen aus dieser Lektüre. Das Notizbuch, das Spionieren, ihre Verdächtigungen, ihr beharrlicher Ausspruch, dass sie nichts verraten würde, solange sie nicht sicher wäre – all das war den Detektiven in den Kriminalromanen abgelauscht.
Und dann der Anschlag auf sich selbst. Das war eine geradezu unglaubliche Tat, wenn man bedachte, wie leicht sie ihn mit dem Tod hätte bezahlen können. Aber nach Art der Kinder hatte sie diese Möglichkeit gar nicht in Betracht gezogen. Sie war die Heldin der Geschichte. Die Heldin kommt nicht um. Doch dabei hatte sie einen Fingerzeig hinterlassen – die Erdspuren auf dem alten Stuhl im Waschhaus. Josephine war der einzige Mensch, der auf einen Stuhl klettern musste, um das Marmorstück auf die obere Türkante zu legen. Offenbar war ihr das mehrmals misslungen, wie die Eindrücke auf dem Boden bewiesen, und ungeduldig hatte sie es immer wieder versucht und ihr Halstuch benutzt, um Fingerabdrücke zu vermeiden. Und dann war der schwere Türstopper ihr auf den Kopf gefallen und sie war mit knapper Not dem Tod entronnen.
Sie hatte ihr Ziel erreicht. Diesen Eindruck wollte sie ja erwecken: Sie war in Gefahr, sie »wusste etwas« und war deshalb angegriffen worden!
Es ging mir auch auf, dass sie meine Aufmerksamkeit absichtlich auf ihre Anwesenheit in der Dachkammer gelenkt hatte. Außerdem hatte sie die Unordnung in ihrem Zimmer selbst hergestellt, bevor sie ins Waschhaus gegangen war.
Doch als sie nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus erfuhr, dass Brenda und Laurence verhaftet worden waren, musste sie enttäuscht gewesen sein. Der Fall war abgeschlossen und sie – Josephine – stand nicht mehr im Mittelpunkt.
So entwendete sie das Digitalin aus Ediths Zimmer, schüttete die Tabletten in ihren eigenen Kakao und ließ die Tasse unberührt auf dem Tisch in der Halle stehen.
Ob sie wohl wusste, dass Nannie den Kakao trinken würde? Möglicherweise. Nach ihren Worten an jenem Morgen hatte sie Nannies Kritik übel genommen. Ob Nannie, klug und erfahren durch ihren lebenslangen Umgang mit Kindern, sie vielleicht verdächtigt hatte?
Josephine hatte von der Großmutter die Herrschsucht geerbt, von Magda den Egoismus, der nur den eigenen Standpunkt kennt. Wahrscheinlich hatte sie auch, mit der gleichen Empfindlichkeit ausgestattet wie Philip, darunter gelitten, dass sie nicht hübsch war – der Wechselbalg der Familie. Zudem durfte man nicht vergessen, dass sie die Enkelin des
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