Das kurze Glueck der Gegenwart
beginnt vielleicht das endgültige Verschwinden der Zeitungs- und Buchkultur, die die letzten zweihundertfünfzig Jahre geprägt hat, ein Strukturwandel der Öffentlichkeit, der auch die Inhalte künftiger E-Bücher und E-Papers nicht unverändert lassen wird. Google Street View markiert das Ende einer Privatsphäre, die sich auch im Aufschwung der sozialen Netzwerke manifestiert. Alles ist öffentlich. Alles ist jederzeit sichtbar und verfügbar. Das wird auch die Frage nach dem Autobiographischen nicht unberührt lassen. Wenn ich irgendwann per Mausklick über einen Menschen alles weiß und sehen kann, dann wird sich auch die Frage nach der Fiktionalität anders stellen. Was kann ein Schlüsselroman noch verraten, wenn jeder schon alles wissen kann? Der Virus Stuxnet, offenbar gezielt im Auftrag von Geheimdiensten zur elektronischen Kriegsführung programmiert, verändert den Charakter der Kriege und wird möglicherweise die Schlachtbeschreibungen des zwanzigsten Jahrhunderts von Jünger bis Kleeberg genauso anachronistisch aussehen lassen wie die polnischen Kavallerieattacken gegen deutsche Panzer und Sturzkampfbomber 1939. Die Geschichte von Wikileaks und seinem kryptoanarchistischen Anführer Julian Assange klingt wie einer jener Cyberpunk-Romane von William Gibson aus den Neunzigern: die einsamen Kämpfer für die Freiheit der virtuellen Welt gegen die mächtigen Großkonzerne und Nationen.
All das ist noch nicht beschrieben. Selbst die Journalisten, deren täglich Brot die Aktualität ist, kommen kaum hinterher. Wenn selbst die CIA vergeblich hinter Julian Assange, einem modernen Robin Hood, herjagt und die ausgebufftesten Computerexperten wochenlang bis zum innersten Kern eines weltkriegsverdächtigen Virus vordringen müssen, wie sollen da die Literaten mitkommen, die Jahre für ein einziges Buch brauchen? Die nicht nur nackte Fakten finden müssen, sondern auch passend angezogene Formen? Die neue Wege finden müssen, das noch nie Beschrittene zu vermessen und in einen Handlungsverlauf zu integrieren?
Doch zugleich ist nur die Erzählung in der Lage, das Bewusstsein wirklich nachhaltig zu verändern. Aber muss es immer literarische Erzählung sein? 2010 ist auch das Jahr, in dem die Literatur in Deutschland offen ihrer Konkurrenz ins Auge sehen muss: Die großen Fernsehserien haben bei der Kritik und beim Zuschauer Anklang gefunden. Ob »Mad Men« oder »The Wire«, »Breaking Bad« oder »Westwing«, »Im Angesicht des Verbrechens«, »Kommissarin Lund« oder »Weißensee« – das Epische ist kein unbestrittenes Vorrecht der Literatur mehr. Vielleicht ist es kein Zufall, dass im Herbst 2010 auch eine deutsche Neuübersetzung von »Krieg und Frieden« erschienen ist, dazu eine Komplettlesung der »Suche nach der verlorenen Zeit« als Hörbuch. Das tolstoische und proustsche Erbe muss die Literatur immer wieder neu verdienen. Sie kann sich nicht darauf ausruhen, einmal definiert zu haben, was Epik und große Form ist. Die meisten deutschen Romane habe man an einem Abend ausgelesen, hat David Wagner bei einer Debatte über die neuen Serien beiläufig gesagt. Die Literatur steht an einer Schwelle, wo sie sich entscheiden muss, ob sie mit den neuen Narrationen noch mithalten will oder sich auf das beschränkt, was nur sie kann: Wirklichkeit in nichts als Sprache zu verwandeln. Wie die Malerei auf das Aufkommen der Fotografie mit der Radikalisierung der Subjektivität reagierte und schließlich mit der Befreiung der Formen und Farben in der Abstraktion, so könnte auch die Literatur Film und Fernsehen locker abhängen durch eine Verschärfung ihrer abstrakten, experimentellen, selbstreflexiven Anteile. Eine neue Avantgarde hätte keine DVD zu fürchten. Nur wenn die Schriftsteller versuchen, mit den bescheideneren Mitteln realistischen Erzählens den personell und finanziell hochgerüsteten Identifikations- und Überwältigungsmaschinen der Bildmedien die Stirn zu bieten, werden sie scheitern. Schon jetzt werden manche, wenn man ihn nach den großen Erzählungen der Nullerjahre fragt, eher die »Sopranos« oder »Six Feet Under« einfallen. Dennoch, das versucht dieses Buch zu zeigen, hat auch die Literatur Bleibendes hervorgebracht. Bleibendes, das auch für seine Zeit stehen kann, das sie zusammenfasst, pointiert, akzentuiert und kommentiert, kurz: seine Zeit erzählt. Und damit aufbewahrt.
Viele Bücher kommen in meinem Buch vor, weil sie in meinem Leben vorkamen. Natürlich hat die deutschsprachige
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