Das kurze Glueck der Gegenwart
definitive Roman über die Verblendung des Intellektuellen im Nationalsozialismus und über die Frage nach der Schuld und Mitschuld. Nach vielen, vielen Versuchen ist das der schulbuchreife Roman über die Geisteshaltung, die Hitler so lange triumphieren ließ: die von jeder Moral befreite Moderne.
Ingo Schulze importiert mit seinen »Simplen Storys« die amerikanische Erzähltradition in die Gegenwart, das Postwende-Deutschland wird hier in vielen kleinen Geschichten eingefangen und transzendiert: Das Einfache vervielfacht und zum Panorama multipliziert.
Wenn ein Buch der vergangenen zwanzig Jahre dem Ideal nahegekommen ist, zwischen sich und die Gegenwart kein Blatt Papier mehr passen zu lassen, so ist das »Abfall für alle« von Rainald Goetz. Wer es heute liest, kann noch einmal teilhaben an dem paradoxen Unternehmen, zugleich mittendrin statt nur dabei zu sein und sich dennoch in Reflexionsdistanz aufzuhalten. Die extremstmögliche Abbildung eines Bewusstseins, das den ganzen medialen Irrsinn, die Feuilletondebatten, die politischen Talkshows, die Kunst, das Theater und den Pop seiner Zeit aufsaugt, filtert und verschlagwortet. Ein utopisches Kunstwerk, das ganz aus dem notwendigerweise scheiternden Versuch besteht, in jedem Moment die eigenen Entstehungsbedingungen vollständig erfassen zu wollen.
Thomas Lehr liefert mit »Nabokovs Katze« einen im besten Sinne gegenwärtigen erotischen Roman. Eine Jagd nach einem Phantom, nach einer unerreichbaren, stets missverstandenen Frau. Lehr stellt damit unter Beweis, dass Literatur Dinge kann, die kein Film jemals schafft.
Christoph Peters’ »Stadt Land Fluß« ist ein ergreifender Roman über den Tod, über den Verlust einer Herkunft und einer Ankunft. Mehr Trauer kann in der Literatur nicht sein.
Annett Gröschner dann hat den ersten Ost-Erinnerungsroman geschrieben, der den unwiederbringlichen Verlust in starke Bilder bringt. Viele sind ihr danach auf diesem Weg gefolgt, aber dieses »Moskauer Eis« wird als ewiger Phantomgeschmack in der Literaturgeschichte Bestand haben.
Martin Klugers über tausendseitiges Berlin-Epos »Abwesende Tiere« erschließt der so ernsten und strengen deutschen Literatur ganz neue Felder der Komik und der Unterhaltung – und das ausgerechnet bei einem so schweren Stoff wie der deutschen Unheilsgeschichte, die im Mikrokosmos des Berliner Zoos eingefangen wird.
Ernst-Wilhelm Händler führt in »Wenn wir sterben« den Wirtschaftsroman auf einen Höhepunkt, indem er auch in der Form konsequent das kannibalistische Prinzip der feindlichen Übernahme triumphieren lässt. Ein gefräßiger Roman, der alle anderen Stimmen der Gegenwart schluckt und verdaut.
Terézia Mora gibt in »Alle Tage« der Fremdheit ein Gesicht, ihr Abel Nema ist eine allegorische Gestalt unserer wandernden Zeit, polygam und polyglott. In diesem Roman wird Sprache zwar zum Integrationsmedium, aber noch lange nicht zum Allheilmittel.
Clemens J. Setz schließlich, das größte Genie der jüngeren Literatur, stellt in den »Frequenzen« neben die Übermacht der Herkunft die Möglichkeit des Ausbruchs und liefert überdies den Beweis dafür, dass Sprache, vom richtigen Handwerker verwendet, doch alles kann.
Diese zehn Bücher haben jedenfalls jetzt schon Geschichte gemacht, und mit ihnen liegt der Leser jedenfalls nicht falsch, wenn er auf die Vergegenwärtigung der Gegenwart zielt.
Es ist fast unheimlich, diese Bücher funktionieren beinahe als Detekteien der Gegenwart: Die Literatur ist das wahre Wikileaks des Zeitgeistes. Wenn Sie diese zehn Bücher gelesen haben, so bilde ich mir ein, dann wissen Sie das Wichtigste über uns, über unsere Welt, unsere Zeit, unsere Sprache, unser Leben. Wie es weitergeht, können Sie trotzdem nur ahnen. Das Neue erkennen wir erst an dem, was unverständlich bleibt.
Über den Autor
© Marijan Murat
Richard Kämmerlings, geboren 1969 in Krefeld, beschloss Mitte der Neunzigerjahre, sich der Gegenwart zu widmen und wurde Literaturkritiker. 1997 begann er mit Rezensionen für den Rundfunk und die »Neue Zürcher Zeitung«, seit 1998 war er Mitarbeiter, ab 2001 Literaturredakteur der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, seit 2010 ist er Leitender Redakteur im Feuilleton der »Welt« und »Welt am Sonntag«.
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