Das kurze Glueck der Gegenwart
Literatur noch einiges mehr zu bieten. Vor allem die ältere Generation von Schriftstellern ist zu kurz gekommen. Nimmt man den Zeitraum ganz genau, hätte ich auch über Elias Canetti, der 1994 starb, oder Ernst Jünger (gestorben 1998) schreiben können. Auch diese beiden hatten noch über die Gegenwart etwas zu sagen, und auch sie waren für mein Leben wichtig. Über Canetti beispielsweise habe ich mehrere Jahre lang wissenschaftlich gearbeitet, und Jüngers Spätwerk gehört zu meinen ersten wichtigen Leseerfahrungen jenseits der Schullektüre. Es liegt also nicht an mangelndem Interesse oder Wertschätzung, dass in diesem Buch weder W.G. Sebald (gestorben 2001) und Peter Rühmkorf (gestorben 2008), noch Dieter Wellershoff oder Martin Walser vorkommen. Obwohl auch diese Schriftsteller in meiner Gegenwart gelebt haben oder noch leben. Das Gleiche gilt für diverse Büchnerpreisträger der vergangenen Jahre, von Brigitte Kronauer bis zu Wilhelm Genazino oder Martin Mosebach. Und natürlich erst recht für moderne Klassiker wie Christa Wolf, Volker Braun, Elfriede Jelinek, Botho Strauß oder Peter Handke.
Ich wollte einfach versuchen, eine Literatur zu erfassen, die ich im weitesten Sinne als Zeitgenossenschaft empfinde. Alle die eben genannten Autoren reichen in ihrem Werk weit in die siebziger und achtziger, Walser, Rühmkorf und Wellershoff bis in die fünfziger und sechziger Jahre, Canetti oder Jünger gar bis in die Vorkriegszeit zurück. Ihr Werk repräsentiert bei aller Aktualität eine andere Generationenerfahrung, einen durch andere Prägungen bestimmten Blick auf unsere Zeit. Zugegeben, ich bin da nicht konsequent, auch ein Urs Widmer hat schon in den Siebzigern tolle Bücher geschrieben. Aber die überwiegende Zahl der in meinem Buch ausführlich beschriebenen Autoren ist erst nach 1990 auf der literarischen Bühne aufgetreten. Das gilt selbst für Autoren wie Sibylle Lewitscharoff, Ernst-Wilhelm Händler oder Martin Kluger, die vorher vielleicht Besseres zu tun oder einfach Probleme beim Verlegen ihrer Bücher hatten.
Dass andere Bücher jüngerer Autoren nicht oder nur am Rande vorkommen, hat schon eher seinen Grund in der Sache. Ohne einer vergangenheitsfixierten Erinnerungsliteratur ihren Wert zu bestreiten: In einem Buch über die Gegenwart der Literatur wären Autoren wie Josef Winkler oder Arnold Stadler fehl am Platze. Das gilt auch für einige sehr erfolgreiche Autoren der Nullerjahre. Ich weiß einfach nicht, was Julia Francks »Mittagsfrau«, Daniel Kehlmanns »Vermessung der Welt« oder Tellkamps »Turm« mit der Gegenwart zu tun haben. Gerade bei Letzterem ist der Fall noch besonders schwierig, weil Tellkamp in seinen literarischen Anfängen die Schwierigkeit einer Erinnerung an die Zeit vor der Wende zum Thema gemacht hat. Sein bislang nur in Fragmenten veröffentlichtes »Nautilus«-Projekt entwarf die DDR als eine untergegangene Stadt, als einen mythischen Ort wie Vineta oder Atlantis. Dabei schien Tellkamp zunächst mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie andere Ost-Autoren seiner Generation, Antje Ravic Strubel oder Julia Schoch. »Der Turm« aber ist eine Erinnerungsliteratur, die mit der historischen Distanz und dem unwiderbringlichen Verlust kein Problem hat. Wird aber der Abstand nicht markiert, der die Gegenwart von der Vergangenheit trennt, wächst die Gefahr eines bloßen Auspinselns von Erinnerungsbildern, mögen diese im Falle Tellkamps auch noch so scharf und genau sein. Möglicherweise wird die für 2011 angekündigte Fortsetzung des »Turms« die Proportionen zurechtrücken.
Wie aber nun aus den fünfzig, sechzig geglückten Büchern der Gegenwart zehn auswählen, die Bestand haben? Wichtig war mir dabei, dass sie entweder einen Anfang markieren, einen Weg freischlagen, dem viele, vielleicht erfolgreichere oder reifere folgten, oder wirklich auf ihrem Feld einen unüberbietbaren Höhepunkt darstellen. Hier in chronologischer Reihenfolge meine zehn Bücher der letzten zwanzig Jahre:
Marcel Beyer: »Flughunde« (1995)
Ingo Schulze »Simple Storys« (1998)
Rainald Goetz: »Abfall für alle« (1999)
Thomas Lehr: »Nabokovs Katze« (1999)
Christoph Peters: »Stadt Land Fluß« (1999)
Annett Gröschner: »Moskauer Eis« (2000)
Martin Kluger: »Abwesende Tiere« (2002)
Ernst-Wilhelm Händler: »Wenn wir sterben« (2002)
Terézia Mora: »Alle Tage« (2004)
Clemens J. Setz: »Die Frequenzen« (2009)
Marcel Beyers »Flughunde« bringt eine Epoche an ein Ende, es ist der
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