Das kurze Glueck der Gegenwart
Handlung ist für dieses nur scheinbar spontane, tatsächlich in feinsten Mustern gewebte Fabulieren nicht nur kein Einwand, sondern eben ihr Thema. Im Kindesalter wie in der Nähe des Todes wird ein Wunschdenken übermächtig, das sich vor allem im Erzählen manifestieren kann – so variiert auch »Herr Adamson« den Mythos der Scheherazade, dem zufolge jede neue Geschichte einen weiteren Aufschub des Todes bedeutet.
Das Buch ist selbst eine Bilanz. Ganz beiläufig verwebt Widmer Motive und Themen seines Werks – die archäologischen Grabungen in der Erinnerung, die Suche nach Schlupflöchern im harten Gewebe der Wirklichkeit, den tiefen Ernst von Possenspiel und Maskerade und die aus Ängsten geborene Koketterie mit dem Tod – zu einem leichten Stoff, der den nackten Schrecken bedecken soll. Das Artistische und Kindlich-Clowneske ist hier zur optimalen Passform einer Erzählung über den unaufhebbaren Skandal der menschlichen Vergänglichkeit geworden. »Ein Leben. Es versprach einst, schier ewig zu werden, und es ist wie ein kurzer Windstoß an mir vorbeigeweht.« Herr Adamson macht es keineswegs dem Sterbenden leichter, abzutreten. Seine Existenz garantiert vielmehr den Zurückbleibenden, dass der Tod nicht das Ende ist. Und auch dessen Vermächtnis erreicht schließlich auf verschlungenen Pfaden doch noch die zunächst verfehlte Adressatin.
Trost ist der Modus dieser Erzählung, die ein Großvater seiner Enkelin und ein alter Schriftsteller seinen treuen Lesern erzählt.
Einmal ist nebenbei vom »unvergesslichen Datum« des 4. September 2011 die Rede, dem Tag, an dem »die israelisch-palästinensische Versöhnung endgültig wurde«. Von der Kraft frommer Wünsche lebt die ganze Geschichte. 2032 wäre Widmer so alt wie sein Erzähler, vierundneunzig; das ist noch lange hin und doch nur ein »Windstoß«. Mit staunenswerter Gelassenheit spielt Widmer mit dem Wissen um die Unwahrscheinlichkeit eines guten Ausgangs, eines dauerhaften Schlupflochs aus der Welt, in der alles stirbt und für immer vergeht.
Was hat die Gegenwart also mit dem Tod zu schaffen, der doch immer erst noch kommt? Erst in der Zukunft wissen wir, ob die Gegenwart gut ausgeht. Wie erst die Zukunft zeigt, was von der Literatur des Jetzt wirklich geblieben sein wird, kann das Präsens im Futur II seine Rettung erleben.
Gekommen, um zu bleiben: Zehn Bücher
Gegenwart, das ist gerade der Dezember 2010. In knapp einem Monat beginnt kalendarisch ein neues Jahrzehnt – wie ja auch das neue Jahrtausend historisch korrekt erst mit dem Jahr 2001 begann. Was ist jetzt? Maxim Biller hat gerade in der Weihnachtsempfehlungsliste der »Frankfurter AllgemeinenSonntagszeitung« behauptet, es habe keinen »Roman des Jahres 2010« gegeben, es tue ihm leid. Eine arrogante, typisch billersche Geste selbstverständlich, selbst wenn man voraussetzt, dass Biller wie ich lieber einen Roman lesen will, der Gegenwart und nichts als die Gegenwart verspricht.
Aber immerhin, man stolpert darüber und sucht nach Gegenargumenten. Richtig widersprechen kann man auf Anhieb dann doch nicht. Es kommen zwar eine Menge Romane aus dem vergangenen Jahr in diesem Buch vor, aber oft mit kritischen Einwänden. Michael Kleebergs »Das amerikanische Hospital« beispielsweise oder auch Thomas Hettches »Die Liebe der Väter«.
Aber dann gab es doch auch Norbert Gstreins Suhrkamp-Schlüsselroman »Die ganze Wahrheit«, den ich für eine sehr gelungene Auseinandersetzung nicht nur mit der unendlichen Geschichte des Verlags, sondern auch mit der hochaktuellen Fiktionalitätsdebatte selbst halte. Die hat ja Biller mit seinem Esra-Prozess maßgeblich geprägt. Dass er Gstreins Verteidigung der Fiktion ebenso wie Hettches Novelle jetzt ignoriert, sagt wiederum einiges über Billers publizistische One-Man-Strategie aus. Aber auch Thomas Lehr hat ja in diesem Jahr seine große west-östliche Klagesymphonie komponiert. »September. Fata Morgana« ist sicherlich ein Buch, das man in den Jahresbilanzen verbuchen muss.
Doch vielleicht meint Biller ja das: Es gibt keinen Roman, der diesem Jahr wirklich gewachsen ist, der es in Geschichten fasst. Denn möglicherweise geht tatsächlich von diesem Jahr 2010 eine neue Epoche aus, vielleicht beginnt etwas Neues, das kaum noch jemand in seiner Bedeutung und Tragweite wirklich begriffen hat.
2010 ist das Jahr des iPad, das Jahr von Google Street View, das Jahr von Stuxnet und das Jahr von Wikileaks. Mit der flächendeckenden Durchsetzung des iPad
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