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Das Land des letzten Orakels

Titel: Das Land des letzten Orakels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Whitley
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konnte man sämtliche Regeln brechen.
    »Nur noch ein paar Höhlen weiter«, erwiderte er. Seine Stimme klang hoch und angespannt, ganz ohne die Musikalität, die sonst in ihr mitschwang. Septima wurde ein wenig ungehalten. Das hier war sein Wunder, und dann sollte er auch keine Angst davor haben.
    Sie wollte gerade etwas erwidern, als sie ein merkwürdiges Echo vernahm, zu weit entfernt, um es zu verstehen. Plötzlich bekam auch sie es mit der Angst zu tun und schlang ihr langes Kleid enger um sich.
    »Wir sind in der Nähe der Kakophonie«, flüsterte sie. »Du hast nichts davon gesagt, dass das Wunder hier draußen ist. Was, wenn es verschwunden ist?«
    »Das wird es schon nicht«, entgegnete er gereizt. »Jammer nicht herum. Ich brauche dir auch gar nicht zu antworten. Du hast mir schon seit Tagen nichts Neues mehr erzählt.«
    Schmollend verfiel sie in Schweigen. Aber es stimmte. Sie würde bald etwas Berichtenswertes für ihn finden müssen. Sie wollte nicht, dass er das Interesse an ihr verlor.
    Sie war erst einmal in der Nähe der Kakophonie gewesen. Damals, als sie noch zu jung gewesen war, um zu singen, hatte ihr Lehrer sie und die anderen aus ihrer Gruppe zu den äußeren Höhlen mitgenommen. Diesen Besuch würde sie nie vergessen.
    Sie erinnerte sich an die fremdartige Stille. Ihr Lehrer hatte ihnen verboten zu reden. Wenn man in der Nähe der Kakophonie redete, forderte man sie dazu heraus, herbeizukommen und einen zu entdecken.
    Dann war da noch die Dunkelheit gewesen. Der Lehrer hatte ihnen befohlen, ihre Laternen zu löschen. Eines der Mädchen hatte sich geweigert weiterzugehen. Sie hatte sich vorher noch nie aus dem Bereich des Kristalllichts herausgewagt. Die anderen hingegen waren mutiger gewesen. Das Mädchen hatte sich zusammengekauert, und sie hatten sie zurückgelassen und waren in die pechschwarzen Höhlen hineingegangen und dabei über kleine Unebenheiten auf dem Boden gestolpert.
    Während Septima weiterging, spürte sie die gleichen Unregelmäßigkeiten unter ihren Füßen. Der Boden fühlte sich hier so ganz anders an als der glatte Stein in der Nähe des Mittelpunkts. Trotzig starrte sie die in ihrer Laterne flackernde Flamme an. Hier war kein Lehrer, der ihr befahl, im Dunkeln weiterzugehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben brach sie die Regeln. Sie war eine Rebellin.
    Doch als Tertius und sie nun tiefer in die äußeren Höhlen vordrangen, hörte Septima wieder das, was sie Jahre zuvor so in Schrecken versetzt hatte – die Echos. Sie drangen aus der Stille zu ihnen, leise zunächst, doch an Intensität zunehmend. Es waren strudelnde, rauschende Töne, so wie das Toben eines aus Worten, Rufen und Klagen bestehenden Flusses. Septima hielt sich die Ohren zu, doch es machte keinen Unterschied. Diese Echos drangen anscheinend aus dem Boden hervor.
    Es waren gar nicht die Stimmen selbst, die sie erschreckten, sondern die Leidenschaft, die ihnen innewohnte. Jede einzelne brüllte vor Freude oder schrie vor Schmerz. Eine Million Stimmen, die alle gleichzeitig redeten, die allesamt forderten, dass sie ihnen zuhörte. Mit klopfendem Herzen beschleunigte sie ihre Schritte. Es hieß, es sei Wahnsinn, durch die Kakophonie zu gehen. Die undurchdringliche Barriere, die ihre Heimat umgab, bestand aus einem Meer von Geräuschen, welche die äußeren Höhlen mit irrsinnigem Geheul und nervtötendem Geflüster erfüllten. Aber das hielt die Leute nicht davon ab, sich ihnen so weit zu nähern, wie sie es wagten.
    »Wir müssen doch nicht durch die Kakophonie gehen, oder?«, fragte Septima, als die Echos ein wenig verhallt waren. Tertius gab keine Antwort. Er würde jetzt nicht reden. Erst wenn Septima ihm im Gegenzug neue Informationen gegeben hatte.
    »Ich war schon einmal hier«, stieß sie hervor. Nach wie vor Schweigen. »Vor sechs Jahren. Kurz bevor wir zum ersten Mal miteinander gesprochen haben.« Sie biss sich auf die Lippen. War das genug?
    Endlich drehte sich Tertius um. Er wirkte zufrieden. Erleichtert stieß Septima den Atem aus. Sie hatte ihm genug Informationen gegeben, hatte den Stand ihres Wissensaustauschs ins Gleichgewicht gebracht; sie waren wieder quitt.
    »Nein, wir müssen nicht hindurchgehen. Das Wunder befindet sich direkt am Eingang von einer äußeren Höhle.« Er grinste, wobei seine Zähne im Lampenlicht glänzten. »Du hast doch keine Angst, oder?«
    »Ein bisschen schon«, gab sie zu. Er trat näher zu ihr. Unwillkürlich wich sie zurück; fast konnte sie seinen Atem auf ihrem

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