Verliebt, verlobt, verflucht
Prolog
Peretrua im vierhundertsten Jahr nach der Gründung …
Die schweren Brokatvorhänge der heruntergekommenen Villa sind für gewöhnlich zugezogen, um das Innere des Hauses vor neugierigen Blicken zu schützen. Doch an diesem frühen Abend werden sie alle zehn Sekunden von zarten Händen vorsichtig beiseitegeschoben. Jedes Mal drückt sich ein schwarzer Haarschopf gegen das von der Kälte beschlagene Fensterglas und ein Paar hellblauer Augen, funkelnd wie zwei Kristalle, starrt gebannt auf die menschenleere Gasse. Doch außer hungrigen Ratten ist niemand zu sehen. Das Mädchen seufzt verdrossen.
»Er ist immer noch nicht da!« Verärgert dreht es sich zu einem anderen Mädchen um, das vor einer Frisierkommode sitzt und versucht, mit einem Zackenkamm durch seine unzähmbaren Locken zu fahren.
»Wer ist noch nicht da, Gingin?«, fragt es zerstreut, während es im Spiegel kritisch seine schneeflockenförmigen Sommersprossen betrachtet.
»Na wer wohl, Natalie? Cévil natürlich! Er hat sich bisher noch nie verspätet und ich frage mich, was ihm wohl dazwischengekommen ist. Was könnte denn wichtiger sein als ich?«, macht Gingin ihrem Ärger Luft. Sie wirft wütend ihre langen, glatten Haare über die Schulter und stemmt verärgert die Hände in die schmale Taille ihres hellblauen Korsettkleides, das sie passend zu ihrer Augenfarbe ausgewählt hat.
Natalie taucht einen überdimensionalen Pinsel in ein Puderdöschen und überlegt laut: »Vielleicht ist Cévil die Prophezeiung wichtiger und er hat eine heiße Spur entdeckt, von der wir noch nichts wissen.«
Gingin verdreht die Augen. »Prophezeiung, Prophezeiung, ich kann das Wort nicht mehr hören! Wenn es diese Prophezeiung nicht gäbe, könnten wir unsere Freunde viel öfter treffen und sie hätten keinen Grund mehr, verfeindet zu sein. Wir könnten zusammen auf einen Ball gehen, wir könnten zusammen bei Kerzenlicht dinieren und was weiß ich noch alles.«
Natalie lacht hellauf. »Das letzte Mal, als Artus und Cévil auf einem Ball aufeinandertrafen, endete in einem Desaster, erinnerst du dich noch?«
»Jaaa, wie könnte ich das vergessen«, antwortet Gingin gedehnt.
Währenddessen nimmt Natalie den Puderpinsel und tupft ihn auf ihre Sommersprossen. Dabei fabriziert sie eine Staubwolke, die sich auf der Kommode und ihrem kostbaren, purpurfarbenen Seidenkleid niederlegt.
»Mist!«, entfährt es ihr wütend. »Diese Puderpinsel sind echt unpraktisch! Aber du hast manchmal witzige Einfälle ... Artus und Cévil befreundet!« Natalie prustet.
»Pffh, puder du lieber dein weißes Näschen nicht zu viel«, entgegnet Gingin beleidigt und beobachtet weiterhin die Straße.
Doch keine der vorbeifahrenden Kutschen hält vor dem Eingang ihres verwitterten Hauses.
»Er war noch nie unpünktlich«, wiederholt Gingin erbost und schlackert verärgert mit ihren spitzen Elbenohren. Nachdenklich betrachtet sie die vom Mond silbern gefärbten Pfützen. Plötzlich schiebt sich das Spiegelbild eines Raben in eine der Pfützen. Gingin legt ihren Kopf in den Nacken und sucht den Himmel nach dem Schattenwerfer ab. Tatsächlich, ein schwarzer Rabe kreist über ihrer Villa.
»Artus ist soeben eingetroffen, Natalie!«
»Nein! Das ist viel zu früh«, kreischt diese daraufhin hysterisch, wirft den Puderpinsel auf den Frisiertisch und stürzt ans Fenster, um sich selbst davon zu überzeugen.
Sie presst ihr Gesicht gegen die kalte Scheibe und starrt gebannt auf den Raben, der sich nun vor einer Pfütze postiert hat.
Gingin kichert belustigt: »Wenn ich es nicht besser wissen würde, so würde ich sagen, der Raben-Artus betrachtet sein Spiegelbild.«
»Er wird gleich hier auftauchen und fragen, ob die Luft Cévil-rein ist«, erwidert Natalie, stürmt an den Spiegel und streicht nervös hier und da eine Haarsträhne zurecht. »Wie sehe ich aus?«, fragt sie Gingin, die trocken antwortet: »Ein bisschen zu viel gepudert, aber ansonsten bist du ganz ansehnlich.«
Natalie zwickt sich hektisch in die Wangen, um rote Bäckchen zu erzeugen, und zupft an ihrem lavendelfarbenen Samtkleid herum. »Das Kleid ist mir viel zu eng«, jammert sie.
»Papperlapapp, Artus liebt doch deine Kurven. Du siehst in dem Kleid einfach hinreißend aus!«
»Danke, Gingin. Ähm, es ist wohl besser, wenn du ...«
»Ich gehe ja schon, der Salon sei dir und Artus überlassen«, sagt ihre Freundin und knickst übertrieben höflich vor Natalie. »Ich werde unten auf meinen unpünktlichen Liebsten warten
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