Das lange Lied eines Lebens
Steinmauer und kroch durch den wuchernden Pflanzenbewuchs. An der Fensterscheibe gab sie sich alle Mühe, die Form eines Blattes beizubehalten, um nicht als hässliche schwarze Feldsklavin entlarvt zu werden, die hier so fehl am Platze war, dass man, hätte man sie ertappt, bestimmt die neunschwänzige Katze hätte kommen lassen. Und dort wartete sie – starrte in ein Zimmer, so prachtvoll, dass sie nicht zu atmen wagte, aus Furcht, selbst die Luft könnte sich als zu vornehm für sie erweisen.
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SECHSTES KAPITEL
Ich glaubte schon, meine Handschrift verbessert zu haben. »Zu unleserlich, Mutter, du musst dir mehr Mühe geben«, so beschwerte sich mein Sohn Thomas aber dann doch wieder. »Sieh nur die Tintenkleckse an deinen Fingern. Sieh nur, wie deine besudelte Hand auf dem ganzen Papier Schmierflecken hinterlässt.«
»Der Federhalter tropft halt so«, erklärte ich ihm.
»Der Federhalter ist nicht schuld daran, dass du die Feder zu tief eintauchst.«
»Tut’s dir leid um die Tinte?«, fragte ich ihn.
»Nein, natürlich nicht.«
»Vielleicht ärgerst du dich darüber, dass ich so viel Papier verbrauche?«
»Ich ärgere mich über gar nichts, Mutter. Ich ermahne dich nur, ein wenig achtzugeben und die Feder am Gefäß abzustreifen, um die überschüssige Tinte loszuwerden, die sonst aufs Papier tropft.«
»Aber das Tropfen und Klecksen ist doch nicht meine Schuld – die Tinte ist minderwertig«, erwiderte ich ihm.
»An der Tinte ist nichts auszusetzen«, widersprach er mir.
»Warum tropft sie dann so?«
»Weil du die Feder abstreifen musst, um die überschüssige Tinte loszuwerden, bevor du den Federhalter aufs Papier setzt.«
Und so ging der Streit wieder von vorn los. Geneigter Leser, ich bin keine Frau, die länger in einem Haus bleibt, als dem Gastgeber lieb ist. Ich stand von meinem Schreibtisch auf und
verließ das Zimmer. Ich holte meinen Handkoffer und packte nur die wenigen Habseligkeiten ein, die ich vor all den Jahren mitgebracht hatte – mein Stück Spitze und meinen blau-weißen Teller. Von dem, was mein Sohn mir geschenkt hatte, wollte ich nichts mitnehmen. Nicht den Sonntagshut mit Feder, nicht die neuen bequemen Schnürschuhe, nicht einmal eine Rolle Stickseide würde er bei mir finden.
Als Thomas merkte, dass ich fest entschlossen war, sein Haus zu verlassen, rief er sogleich nach Lillian. Immer, wenn er mich ungerecht behandelt hat, ruft er nach Lillian. All seine Kämpfe muss seine Frau für ihn austragen, als wäre sie seine Mama und er ihr Wurm.
Wie ein Wirbelwind kam sie in mein Zimmer gestürmt, um mir den Handkoffer zu entreißen.Was haben wir zwei miteinander gerungen! Ich bin eine alte, alte Frau, und sie hat nicht mehr als vierzig Jahre auf dem Buckel, und doch hat sie mit mir gekämpft wie mit einem Fieber. Nur aus Angst, der Sprung in meinem blau-weißen Teller könnte noch größer werden, habe ich nachgegeben.
»Miss July, bitte stellen Sie den Koffer ab«, sagte sie. »Das ist das Haus Ihres Sohnes, und Sie sind hier willkommen. Das wissen Sie. Thomas hat es nicht böse mit Ihnen gemeint.«
Nun, geneigter Leser, obwohl ich schon größeres Ungemach erlitten habe, als mit Lillian zu ringen – die, dessen kannst du versichert sein, keine Gegner in für mich gewesen wäre, wenn wir das gleiche Alter gehabt hätten –, tut mir immer noch alles weh. Alle meine Knochen haben Stimmen, die zu mir sprechen. Selbst der kleinste von ihnen unterhält sich mit mir in der Sprache der Schmerzen. Aber ich ertrage sie, so gut eine alte Frau es eben vermag. Und doch hat der Streit mich aufs Bett geworfen, mit einem Kopf, wund wie ein gepeinigtes Herz. Selbst die Entschuldigung meines Sohnes pochte mir im Ohr. Ich glaubte schon, meine Erlösung sei nahe; glaubte, dass mein Schöpfer, sei er nun Gott oder
Teufel, meine Geschichte nicht aufgeschrieben haben wollte wie in irgendeinem närrischen Buch, sondern ins Ohr geflüstert.
Doch nach etwas Amaranthsuppe und ein paar Bissen geschmortem Ziegenfleisch ging es mir schon sehr viel besser. Nun sitze ich wieder an meinem Schreibtisch und bin gesünder als zuvor.
Wie ich so schreibe, merke ich: Wenn ich die Feder meines neuen Federhalters – ein feines Gerät mit einem Griff aus Ebenholz, das mein Sohn aus Montgomery Ward in Amerika hat kommen lassen – an der Seite der Schreibgarnitur abstreife, die die neue Flasche mit glänzend schwarzer Tinte enthält, fällt kein Tropfen mehr auf die Seite hinab. Natürlich
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