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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Diabello es geschafft, das Haus in Mrs. Shapiros Namen eintragen zu lassen, indem er die Tatsache, dass sie seit sechzig Jahren Steuern dafür zahlte, als Beleg für ihre Ansprüche anführte, so dass sie das Grundstück für eine beträchtliche Summe an einen Bauunternehmer verkaufen konnte. Nur Mark weiß, wie beträchtlich die Summe war, und er hat Verschwiegenheit geschworen.
    Sie hat sich ein hübsches Apartment in einem betreuten Wohnprojekt in Golders Green gekauft - wo Haustiere leider verboten sind -, und Chaim und Mussorgski hat sie in einer Wohnung in Islington untergebracht. Violetta ist bei mir geblieben. Wir leisten einander Gesellschaft, und in stillen Momenten, wenn alle anderen unterwegs sind, sitzen wir zusammen auf dem Sofa und tauschen unsere klebrigen Erinnerungen aus. Manchmal frage ich mich, ob sie Wonder Boy vermisst, doch aus irgendeinem Grund glaube ich es nicht. Der Rest des Geldes aus dem Verkauf von Canaan House ging, mitsamt seinen übrigen Bewohnern, an den Katzenschutzverein. Mrs. Shapiro will niemandem sagen, wie viel es war, aber ich bin mir sicher, dass es reicht, um eine enorme Zahl hungriger Streuner für den Rest ihres stinkigen kleinen Lebens mit Katzenfutter zu versorgen.
     
    Auf der Party kam ich nicht mehr dazu, Chaim nach Dänemark zu fragen, aber eines Samstags im September treffen wir uns in einem Cafe in Islington Green, in der Nähe seiner Wohnung.
    Es regnet wieder - irgendwie scheint es das ganze Jahr fast immer geregnet zu haben -, doch er sitzt in einer gemütlichen Ecke am Fenster und blättert in einer Reisebroschüre. Ich hätte ihn fast nicht erkannt, so anders sieht er aus als der Mann in dem braunen Anzug. Er trägt schwarze Jeans, ein blaues Hemd mit offenem Kragen und eine schicke randlose Brille. Wenn man es nicht wüsste, würde man nicht einmal bemerken, dass er ein Glasauge hat. Ich schüttele den Schirm aus, und wir umarmen uns kurz, meine regennasse Wange an seiner stoppeligen, dann bestellen wir Kaffee. Er erzählt mir von seinem neuen Job in einem Reisebüro, das auf Reisen ins Heilige Land spezialisiert ist, aber ich habe keine Lust auf Smalltalk. Ich will den letzten Teil in das Canaan-House-Puzzle einfügen.
    Ich nehme das Foto aus der Tasche - das Foto der jungen Frau unter dem steinernen Torbogen - und schiebe es über den Tisch. »Das ist für Sie, Chaim. Erzählen Sie mir von ihr.«
    Er nimmt das Foto und betrachtet es, und das liebe kindliche Grübchenlächeln verirrt sich wieder in sein Gesicht.
    »Ja, das ist sie. Lächelt wie Mona Lisa.«
    »Sie sagten, sie kam aus Dänemark.«
    »Kennen Sie die Geschichte der dänischen Juden? Es war anders als bei allen anderen Juden in Europa.« »Erzählen Sie mir davon.«
    Er hat die Brille abgenommen und lehnt sich zurück. Er hält das Foto noch in der Hand, aber es ist, als würde er durch das Foto hindurch an einen anderen Ort in eine andere Zeit sehen. »Naomi Löwenthal war ihr voller Name. Sie wurde 1911 in Kopenhagen geboren. Herrliches, herrliches Kopenhagen! Waren Sie schon mal dort?«
    »Nein.« Ich schüttele den Kopf.
    »Ich auch nicht. Vielleicht werde ich nächstes Jahr mal hinfahren. Sie wohnten im jüdischen Viertel. Dort sind meine Großeltern begraben, auf dem jüdischen Friedhof. Sie war das jüngste von drei Kindern. Ihre Mutter starb, als sie zehn war. Wie bei mir.« Ein Schatten legt sich über sein Gesicht. »Aber sie hatte noch ihren Vater und zwei ältere Brüder. Sie wurde sehr verwöhnt, glaube ich, von all diesen Männern um sie herum.«
    Naomis Vater, Chaims Großvater, war Mathematiker an der Universität, und Naomi selbst wurde Mathematiklehrerin am Gymnasium. In den dreißiger Jahren waren ihre Brüder in der zionistischen Bewegung aktiv, die in den jüdischen Gemeinden Europas entstanden war, geschürt durch Antisemitismus und Verfolgung. »Und Naomi?«
    »Naomi war manchmal auf der Seite ihrer Brüder und manchmal auf der ihres Vaters. Mein Großvater war einer von denen, die glaubten, assimilierte Juden könnten gleichwertige Bürger in den Ländern, in denen sie lebten, sein. Er glaubte, die Sturmwolken, die sich über Europa zusammenzogen, würden von den Winden des Fortschritts und der Aufklärung fortgeblasen.« Er macht eine Pause und spielt an seiner Brille herum. »Doch leider wurde er aufs Tragischste widerlegt.«
    Als die Deutschen 1940 in Dänemark einmarschierten, bekam das Thema eine neue Dringlichkeit. Die dänische Regierung konnte mit den Besatzern

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