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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Verwickelte Fäden
    Sie hieß Theres Heimrath oder vielmehr Resl, wie man sie in gewohntem Dialekt nannte, und war die vierte von neun Geschwistern. Zwei davon waren, kaum halbjährig, gestorben, bevor sie zur Welt gekommen war, und wiederum zwei, darunter der einzige Sohn, starben, als sie noch nicht zur Schule ging. Man schrieb den 1. November 1857. Am Nachmittag dieses Allerheiligentages, da die Leute nach altem Brauch im Gottesacker des nahen Pfarrdorfes Aufkirchen die Gräber ihrer Verstorbenen aufsuchten, erblickte sie das Licht des Tages. Ihre Mutter soll, so wird erzählt, schon in den Wehen gelegen haben, als der Bauer und die Dienstboten das Haus verließen. Die religiöse Pflicht erschien ihnen wichtiger als bedrängte Mutterschaft und Kindsgeburt. Niemand war in der Ehekammer als die einjährige Genovev, die plappernd auf dem Boden herumkroch, manchmal ans Bett der Mutter kam, deren heiße, verkrampfte Hände betastete, verwundert aufschaute, erschreckt von den wimmernden Wehlauten der Gebärenden, zu weinen anfing und wieder wegtappte. Zwischen Tod und Leben schwebend, betete die Heimrathin in ihrem Schmerz und überstand alles. Erst beim Hereinbruch der Dunkelheit kamen die Ihrigen zurück und fanden neben der erschöpften Mutter das neugeborene, schreiende Kind. Die kleine Genovev hatte sich unter einer Bettstatt verkrochen.
    Vielleicht war die Nachwirkung all dieser Umstände der Grund, weshalb der Tod im Leben der Resl, wie im Leben aller durchaus gesunden Menschen, eine so beherrschende Rolle spielte. Sie fürchtete ihn als Kind ebenso wie als Greisin, und sie empfand ihn, wenn er nicht sie und die Ihren bedrohte, stets als den großen gerechten Ausgleicher, der den Armen auslöscht und auch nicht halt macht vor Glanz und Reichtum, vor Macht und Größe.
    Nachdem mit der Zeit die Gesichtszüge des Kindes deutlicher geworden waren und insbesondere die breiten, stark hervortretenden Backenknochen mit den tief dahinterliegenden kleinen graugrünen Augen das Eigentümliche des Geschlechtes mehr und mehr sichtbar machten, meinte sein Vater mitunter, die Resl sei durch und durch eine echte Heimrathische. Er sagte es sicherlich nicht aus irgendeiner besonderen Hinneigung, denn mit den Kindern machte man beim Heimrath kein großes Aufheben. Jedes Jahr wurde eins geboren. Starb es, so war es schade darum, blieb es am Leben, war es gut. Wahrscheinlich erinnerte das Gesicht der Resl den Bauern an seine Väter und Urväter und heimelte ihn an.
    Die Heimraths lebten seit Jahrhunderten auf dem einsamen Bauernhof in Aufhausen. Es gab dort nur noch das weit kleinere Lechnerhaus, und erst in den letzten Jahren nach dem Weltkrieg ist ein gräfliches Gut dazugekommen. Die alte, breite Fahrstraße, die vom hochgelegenen, weithin sichtbaren Aufkirchen in südöstlicher Richtung talabwärts läuft, führt am Hof vorbei, rinnt kurz darauf in einen weit ausgedehnten Fichtenwald und erreicht schließlich nach langen Windungen durch eine triste Moorgegend, in welcher nur wenige niedere, winklige Häuser armer Torfstecher stehen, den ansehnlichen Marktflecken Wolfratshausen. Aufhausen liegt in einer tellerflachen Mulde, die linkerseite sich aufschließt und schräg abfällt. Weite grüne Wiesen, fruchtbare Äcker und friedliche Wälder, die die fernen, leicht gewellten Hügel verdunkeln, breiten sich rundherum aus. Auf der einzigen Straße ächzen schwere Fuhrwerke dahin. Wandernde Zigeuner ziehen am Hof vorüber und kampieren mitunter einige Tage am Waldrand. Fremde städtische Menschen tauchen ganz selten auf. Gleichgültig schauen sie die paar Häuser an und gehen weiter. Es mag vorkommen, daß einmal ein Hausierer nach langem Gerede in Aufhausen etwas von seiner Ware absetzt. Hin und wieder kommt der Pfarrer, oder ein Bettelmönch tritt in die verrußte, geräumige Kuchl. Sie werden ehrfürchtig empfangen und in die nebenanliegende, helle, selten benützte gute Stube geführt.
    Gleich und gleich blieben Zeit und Leben für Aufhausen. Deshalb sind auch die Überlieferungen der Heimraths ziemlich spärlich. Für sie muß es nie etwas anderes gegeben haben als Geborenwerden, Aufwachsen, unermüdliche Arbeit, demütige Gottesgläubigkeit und Sterben.
    Während des Dreißigjährigen Krieges, in den Jahren 1632 und 34, verwüsteten die Schweden zweimal die Dörfer und Höfe der katholischen Pfarrei Aufkirchen. Die Wiesen waren erstmalig gemäht, die noch grünen Getreideäcker standen prall da und versprachen eine reiche Ernte.

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