Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Die Bauern verließen Haus und Feld und flohen in die dichten Wälder. Der Pfarrer Georg Colonus irrte von einem Haufen Flüchtender ab und wurde von feindlichen Reitern ergriffen. Sie hieben erbarmungslos auf ihn ein, banden seinen blutig zerschundenen Körper an einen Strick, befestigten diesen am Sattelknopf und schleiften den unglücklichen Geistlichen so lange mit, bis er sich nicht mehr rührte. Kurz vor Aufhausen ließen sie ihn liegen. Er erwachte nach einiger Zeit, kroch mühsam weiter und fand schließlich die Seinigen im Wald. Wie durch ein Wunder blieb er am Leben und wurde wieder gesund. Nach dem ersten Abzug der Schweden zeichnete er gewissenhaft die Namen der 23 Bauern auf, die von den feindlichen Soldaten ermordet worden waren. Darunter befand sich auch der Lechner von Aufhausen. Die Heimraths waren davongekommen.
Zwei Jahre darauf, anno 34, ergriff Colonus beim Wiedereindringen der schwedischen Scharen in den Aufkirchner Gau die Flucht und blieb neun Wochen fort. Nach seiner Rückkehr legte er abermals eine genaue Liste der getöteten Pfarrangehörigen an. In diesen Aufzeichnungen sind auch alle Verwüstungen durch den Feind der Reihe nach angegeben. Das nahe Schloß in Bachhausen, das dem kaiserlich-bayrischen Generalkriegskommissar Graf von Rüpp gehörte, die meisten Dörfer und Einzelhöfe wurden schonungslos niedergebrannt. Die Heimraths mußten auch diese schreckliche Zeit ohne sonderlichen Schaden überlebt haben. Merkwürdig, ihr Hof – alleinstehend, ansehnlich, kaum eine Viertelstunde vom Pfarrdorf entfernt, an der Fahrstraße liegend – konnte den rachsüchtigen, beutegierigen Feinden doch nicht entgangen sein! Er war doch unmöglich zu übersehen!
Allem Anschein nach aber ist er verschont geblieben, denn Colonus berichtet nichts Gegenteiliges, ja, er erwähnt die Heimraths nicht einmal mit einem einzigen Wort. Wenngleich dies nun durch nichts belegt werden kann, bei einiger Verwegenheit der Vorstellung könnte man fast annehmen, der Aufhauser Bauer habe zur Rettung seines Hab und Gutes einen anderen Weg als die kopflose Flucht in die Wälder eingeschlagen. Vielleicht sagte er sich in stumpfer Gelassenheit: »Krieg ist eben Krieg, und alles hängt vom Zufall ab. Was hab’ ich schon davon, wenn ich davonlaufe und beim Zurückkommen statt meines schönen Hofes einen Aschenhaufen finde! Lieber gleich als Heimrathbauer sterben, bevor ich ein Leben lang als Bettler im ungewissen herumlaufe. Bleiben wir und schauen wir, was wird! Besser ist’s, einiges einzubüßen, als alles sinnlos zugrunde gehen zu lassen.«
Vielleicht ließ er Tür und Tor offen und empfing die rauhen Kriegsleute unerschrocken wie ein biederer Wirt, bot ihnen bereitwillig Speis und Trank an und ließ sie kaltblütig gewähren. Eine so abgebrühte, breit lachende, bezwingend-schlaue Bauernfreundlichkeit, die ein Heimrath dem anderen von Generation zu Generation vererbte, mag vielleicht auf die hitzigen Schweden derart verblüffend gewirkt haben, daß sie nach all dem wilden Fliehen und hilflos bittenden Jammern, das ihnen bis jetzt überall begegnet war, eine solche Einkehr als angenehme Abwechslung empfanden und schließlich abzogen. Demütig und gar nicht eitel darüber, daß sein kluger Einfall sie vor dem Schlimmsten bewahrt hatte, aber doch tief zufrieden, wird der Heimrath mit den Seinen dem Allmächtigen gedankt haben. Denn nichts vermochte der Mensch, alles stand in »Gottes Hand«.
Gewiß sind das nur Mutmaßungen, dennoch ist eine so kühne Schlußfolgerung, wenn man alles scharf überdenkt, nicht ganz von der Hand zu weisen.
In den darauffolgenden zwei Jahren raffte die Pest, die mit dem unseligen Krieg in die Gaue gekommen war, zahlreiche Familien dahin. Das pfarramtliche Totenregister enthält keinen Namen Heimrath. Zum ersten Male wird einer von ihnen im Zusammenhang mit einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1645 im sogenannten Mirakelbuch der Aufkirchner Pfarrchronik namentlich erwähnt. Es heißt da, einer seiner Knechte habe sich in der Christnacht noch einmal im Stall bei den Pferden zu schaffen gemacht und dabei durch ein Guckloch in den dunklen, rauhreifüberzogenen Obstgarten geschaut. Da sei »ein rotfeuriger böser Geist« durch dieses Loch gefahren, habe den Knecht gewaltmäßig gepackt, ihn hin und her geworfen, in den Garten hinausgezerrt und in den Brunnen werfen wollen. In seiner Not habe sich der Knecht der gnadenspendenden Gottesmutter von Aufkirchen »versprochen« und daraufhin sei der
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