Das Leben meiner Mutter (German Edition)
nun wollten sie rastend feiern. Und sie feierten derb und wild, wie nur Bauern zu feiern verstehen. Ihre trunkene, alles vergessende Heiterkeit riß mit.
Stets, wenn wir in eine Laube traten, stellte ein Tifliser uns vor. Der Älteste maß jeden mit schlauen, lustigen Blikken, grinste ein wenig und dichtete gelassen einen Spottvers auf den eben Vorgestellten. Er sprach ihn ein- oder zweimal seiner Runde vor, dann sangen sie ihn alle in der Art unserer oberbayerischen »Schnadahüpferl« und lachten unbändig dabei. Zum Schluß bot man uns Wein und Essen an. Es war eine gastfreie, brüderliche Kirchweih, wie meine Mutter sie liebte.
Bei der Abfahrt begleiteten uns Reiter eine Strecke Weges. In rasendem Galopp jagten sie hinter unseren Autos her, jauchzten, warfen die blitzenden Dolche in die Luft und fingen sie auf, schließlich kehrten sie um und winkten noch lange.
Es ging wieder rüttelnd und schüttelnd über die schon dämmerige, endlose Steppe. Während der Fahrt kam der grusinische Schriftsteller, der mich durch Tiflis geführt hatte, unter anderem auf Stalins Mutter zu sprechen. Sie lebte immer noch so althergebracht, bescheiden und völlig zurückgezogen dort.
»Sie nennt ihren großen Yossif heute noch Soso«, sagte der Grusinier und fuhr fort: »Irgendein europäischer Journalist hat sie einmal aufgesucht und sie ausfragen wollen. Dem hat sie gesagt, Soso sei immer ein guter Junge gewesen. Recht viel mehr hat sie nicht gesagt.«
Wie kommt er nur darauf? dachte ich. Weiß er denn, an was ich beständig denke, seit ich in Tiflis bin?
Meine Müdigkeit schwand.
»Einmal hat sie Stalin nach Moskau in den Kreml geholt, seine Mutter«, berichtete unser Freund und setzte dazu: »Die Geschichte ist sehr bekannt und oft gedruckt worden. Ekaterina ist auch wirklich nach Moskau gefahren. Über einen Monat ist sie ausgewesen. Sie war todunglücklich und ganz verwirrt im Kreml. Sie hat sich nicht erklären können, was ihr Sohn eigentlich arbeitet, um sein Brot zu verdienen. Sie fand, er tat gar nichts Ordentliches. Sie ist wieder zurückgekommen aus Moskau und hat geraunzt: ›Ich versteh das nicht!‹ Aber sie war zufrieden, weil es Soso gut ging.«
Einige lächelten. Ich aber hätte glauben können, es sei von meiner Mutter die Rede gewesen. Nicht anders verhielt sie sich.
Beim Anbruch der Nacht kamen wir in Tiflis an. Uns zu Ehren wurde ein Bankett gegeben. Der grusinische Wein machte heiter. Die üblichen Trinksprüche wurden gewechselt, und die Reihe kam auch an mich. Ich stand auf und erhob mein Glas. Merkwürdig, ich war wehmütig und glücklich zugleich.
»Genossen«, sagte ich, »ich kann nicht reden. Die ganze Zeit, seit ich in Tiflis bin, denke ich immer nur an meine alte Mutter. Ich weiß nicht einmal warum. Aber wenn ich alles zusammennehme, was ich in den paar Tagen hier gesehen und erlebt habe, so kommt es mir vor, als wenn Tiflis das Leben meiner Mutter wäre. Ich kann das nicht anders erklären, liebe Genossen. Meine Mutter ist nur eine alte Bäuerin, sonst nichts. Tiflis ist wie sie! Ich trinke auf das Wohl meiner Mutter!« Mit guten Gesichtern, freudig und heiter, stießen alle an mein Glas, und einige Male hörte ich rufen: »Lang lebe die Mutter!« Ich war verwirrt und eigentümlich erregt.
Bald darauf ging man auseinander. Es war tiefe Nacht. Riesenhoch, dunkel und blank hing der grusinische Himmel über der Stadt. Glitzernd leuchteten die Sterne.
Es war der 27. September.
Nach ungefähr einer Woche kamen wir nach Moskau zurück. Dort lagen Telegramme und Briefe von daheim, die meine Frau mir aus der Tschechoslowakei nachgeschickt hatte. In der gleichen Nacht, zur selben Stunde, da ich über sie gesprochen hatte, war meine Mutter gestorben. Ein Brief mit Trauerrand von Maurus erzählte folgendes über ihr Ableben:
» … Am Donnerstag abend war sie noch bei mir in der Küche, beklagte sich, daß es kalt werde und sie friere. Ich drängte sie an den Ofen. Sie wärmte sich etwas, ließ sich aber durchaus nicht halten.
›Ich muß die Milch beim Schatzl holen, ich komme ja zu spät!‹ sagte sie. Ich wollte ihr die Milch vom Mädchen holen lassen.
› Ja, freilich, das wär’ noch schöner!‹ sagte sie und weg war sie. Anderntags will sie noch aufstehen, daß ja die Theres und die Annamarie nicht aufstehen brauchen, aber ihre Kräfte lassen nach. Sie muß sich wieder hinlegen. Du weißt, lieber Oskar, daß sich Mutter nur dann hinlegte, wenn es wirklich nicht mehr anders ging.
Sie
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