Das lebendige Theorem (German Edition)
ist ein Teil historisch und zugleich Film, zur selben Zeit bin ich Teil der Geschichte, mehrere gleichzeitige Erzählebenen. Der Prinz hat aber wirklich kein Glück. Er wird ständig belästigt. Die Menschenmenge, die Presse, großer Druck. Der König = Vater der Prinzessin heckt etwas aus, es geht um Geldgeschichten und um einen verheimlichten Sohn. Es gibt keine Garantie für Freiheiten. Ich wettere über Le Monde , wobei ich deren Titelblatt kommentiere. Politisch haben sie wieder Dummheiten gemacht. Aber eine tiefe internationale Besorgnis ist mit dem Preisanstieg von Rohstoffen verbunden, die Länder des Nordens, bei denen ein wesentlicher Teil des Einkommens mit dem Transport verknüpft ist, leiden, besonders Island oder Grönland. Jedenfalls besteht keine Aussicht auf Besserung. Ich mache Bemerkungen zu den Möglichkeiten, z.B. nach Paris zu fahren oder jedenfalls berühmte Athleten zu treffen, die die wahren Berühmtheiten sind. Ich klopfe Hologrammen, die meine Kinder darstellen, auf den Rücken … Aber ein kollektiver Selbstmord wurde beschlossen. Als der Zeitpunkt gekommen ist, frage ich mich, ob wohl auch alle da sind. Vincent Beffara nicht, der die Rolle eines der Kinder spielte. Aber jetzt passt er nicht mehr gut zu der Rolle, die Dreharbeiten haben lange gedauert und Vincent ist gewachsen; stattdessen nimmt man zweimal denselben Schauspieler, am Ende seiner Rolle hat er nicht viel zu sagen, ein Kind übernimmt die Sache. Ich bin sehr bewegt, man wird die Operation einleiten. Ich betrachte Gemälde und Plakate auf den Wänden, bei denen es um die Verfolgung bestimmter religiöser Orden vor sehr langer Zeit geht, sie lösen ihre Haare, bevor sie in den Tod gehen, und das sogar bei zwei verschiedenen Orden, wobei den Glaubensüberzeugungen zufolge nur diejenigen, die zu einem bestimmten Orden gehörten, in derselben Haltung starben, nur sie hätten ihre Haare lösen sollen. Es gibt auch ein Gemälde mit dem Titel Lob des Dissidententums oder so ähnlich. Darauf sieht man, wie verschiedene Monster/Polizisten nach Demonstranten schnappen, die auch schwach dagegen protestieren. Ich gebe Claire einen letzten Kuss, wir sind sehr bewegt. Es geht auf fünf Uhr morgens zu, die ganze Familie ist versammelt, wir müssen wohl so etwas wie einen Straßenbaudienst anrufen, die Stimme verstellen, erklären, dass wir Bomben brauchen und dass sie uns welche hierher schicken können; wenn sie von Vorsichtsmaßnahmen oder so etwas sprechen, werden wir (auf Englisch) sagen: Danke, ich komme gerade aus der Psychiatrie (um anzudeuten: ich bin mit diesen Bomben gefährlich), der Bursche wird verstehen, dass es sich um einen Scherz handelt und wird alles schicken, und dann wird alles explodieren. Alles ist für 5:30 Uhr vorgesehen. Ich frage mich, ob ich mein Leben tatsächlich in einer anderen Wirklichkeit weiterführen werde, eine andere Richtung ausprobieren oder als Baby wiedergeboren und mich jahrelang im Fegefeuer befinden werde, bevor mein Bewusstsein wieder erwacht … Mir ist sehr bange. Ich erwache um 5:35 Uhr (wirkliche Zeit!).
Kapitel 6
Lyon, Herbst 2008
Und die Tage und Nächte
vergingen
in Begleitung des Problems.
In meiner fünften Etage ohne Aufzug, an meinem Schreibtisch, in meinem Bett …
In meinem Sessel, Abend um Abend, Tee um Tee, Fährten und Unterfährten erforschend, alle Möglichkeiten sorgfältig festhaltend, nach und nach die Sackgassen ausscheidend.
An einem Tag im Oktober hat mir eine koreanische Mathematikerin, eine ehemalige Schülerin von Yan Guo, ein Manuskript über die Landau-Dämpfung geschickt, und zwar mit dem Ziel der möglichen Veröffentlichung in einer Zeitschrift, deren Herausgeber ich bin: »On the existence of exponentially decreasing solutions of the nonlinear Landau damping problem«.
Einen Moment lang glaubte ich, dass sie und ihr Mitarbeiter das Resultat bewiesen hätten, an dem mir so viel liegt: Sie konstruieren Lösungen der Wlassow-Gleichung, die sich spontan auf ein Gleichgewicht hinentwickeln! Ich habe sogleich dem Chefredakteur geschrieben, dass ich mich in einem Interessenkonflikt befinde und dieses Manuskript nicht begutachten kann.
Aber als ich näher hinsah, verstand ich, dass sie weit vom Ziel entfernt waren: Sie hatten nur die Existenz bestimmter gedämpfter Lösungen bewiesen; was man aber zeigen müsste, ist, dass alle gedämpft sind! Wenn man nur weiß, dass manche Lösungen gedämpft sind, weiß man nie, ob man jemals auf eine davon stoßen wird
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