Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
die eine Harpyie besitzt, und niemals wird es eine geben! Ich behalte sie – und wenn ich ihr jeden Tag ein Stück von deiner Leber füttern müsste!«
»Vielen Dank!«, sagte Rukh und rückte etwas von ihr ab. »Und was, wenn sie nur deine Leber will?«, wollte er dann wissen. »Was wirst du dann tun?«
»Ihr trotzdem deine vorwerfen«, antwortete Mammy Fortuna. » Sie würde den Unterschied nicht merken. Harpyien sind nicht sehr klug.«
Als sie allein war, huschte die Hexe im Mondlicht von Käfig zu Käfig, rüttelte an den Schlössern und murmelte Zauberformeln, so geschäftig wie eine Hausfrau, die auf dem Markt Melonen betastet. Wie sie aber zum Käfig der Harpyie kam, da stieß diese einen Schrei aus, spitz wie ein Speer, und breitete die schreckliche Pracht ihrer Schwingen. Einen Moment lang kam es dem Einhorn so vor, als würden die Käfiggitter zu einem Vorhang aus Regen; aber dann knackste Mammy Fortuna mit ihren knochigen Fingern, und die Gitter waren wieder aus Eisen, und die Harpyie sank auf ihrem Pfahl zusammen und lauerte.
»Noch nicht«, sagte die Hexe, »noch nicht«. Die beiden starrten einander an, und ihre Augen waren sich vollkommen gleich. Mammy Fortuna sagte: »Du gehörst mir. Und wenn du mich tötest: Du gehörst mir!« Die Harpyie rührte sich nicht, aber eine Wolke löschte den Mond aus.
»Noch nicht«, sagte Mammy Fortuna, dann kam sie auf den Käfig des Einhorns zu. »Nun«, sagte sie mit honigsüßer Stimme, »eine Weile lang hab ich dir Angst eingejagt, nicht wahr?« Ihr Lachen klang, als glitten Schlangen durch Schlamm. Sie kam näher.
»Was dein Freund, der Zauberer, auch sagen mag«, fuhr sie fort, »ein bisschen Talent muss ich schon haben. Ein Einhorn dazu bringen, dass es sich alt und eklig fühlt – ich denke, dazu braucht man schon eine gewisse Geschicklichkeit. Und glaubst du wirklich, eine Zauberformel, die keinen roten Heller wert ist, könnte die Dunkle in ihren Käfig bannen? Niemand vor mir…«
»Prahle nicht, alte Frau!«, erwiderte das Einhorn. »Dein Tod sitzt in dem Käfig dort und hört dich.«
»Ja«, sagte Mammy Fortuna gelassen. »Ich weiß wenigstens, wo er ist. Du jedoch bist landauf, landab hinter deinem Tod hergejagt.« Wieder lachte sie. »Ich weiß sogar, wo er ist! Ich habe dich davor bewahrt, ihn zu finden, und dafür solltest du mir eigentlich dankbar sein.«
Das Einhorn vergaß, wo es war, und presste sich gegen die Gitterstäbe. Sie taten ihm weh, aber es wich nicht zurück. »Der Rote Stier«, stieß es hervor, »wo kann ich den Roten Stier finden?«
Ganz dicht kam Mammy Fortuna an den Käfig heran. »Der Rote Stier des Königs Haggard«, murmelte sie. »Du weißt also von dem Stier!« Sie bleckte zwei Zähne. »Er wird dich nicht bekommen«, sagte sie. »Du gehörst mir.«
Das Einhorn schüttelte den Kopf. »Du weißt, das ist nicht wahr«, sagte es sanft. »Lass die Harpyie frei, solange noch Zeit ist, und lass auch mich ziehen. Behalte deine armen Schatten, wenn du willst, aber uns lass gehen.«
Die starren Augen der Hexe entflammten so wild und hell, dass eine zerzauste Schar Mondmotten – unterwegs zu einer nächtlichen Lustbarkeit – schnurstracks in sie hineinflatterte und zischend zu schneeiger Asche verbrannte. »Eher würd ich das Schaugeschäft an den Nagel hängen!«, knurrte sie. »Mein Lebtag diese handgestrickten Schreckgespenster herumzukarren, meinst du, das sei mein Traum gewesen, als ich jung und böse war? Meinst du, ich hätte mir diese magere Magie, die auf der Dummheit beruht, ausgesucht, weil ich die wahre Hexenkunst nie gekannt? Ich führe diesen Mumpitz mit Hunden und Affen auf, weil die Sterne für mich unerreichbar sind – aber ich weiß, dass es diese Sterne gibt! Und du verlangst von mir, auf deinen Anblick zu verzichten, auf den Anblick eines von mir gefangenen Fabeltieres! Ich habe Rukh gesagt, wenn es sein müsste, fütterte ich der Harpyie seine Leber – und das würde ich auch. Und um dich zu behalten, würde ich deinen Freund Schmendrick nehmen und ihn…« Sie geriet in solche Wut, dass sie stotterte und schäumte und endlich verstummte.
»Bei Leber fällt mir ein«, sagte das Einhorn, »zur wahren Magie braucht man nicht die Leber anderer Leute. Man muss sich schon die eigene herausreißen, ohne Hoffnung, sie zurückzubekommen. Die echten Hexen wissen das.«
Ein paar Sandkörner rieselten Mammy Fortunas Wangen herab. Alle Hexen weinen so. Dann ging sie rasch zu ihrem Wagen hinüber; plötzlich
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