Inspector Alan Banks 09 Das blutige Erbe
* EINS
* I
Die Leiche des Jungen lehnte an einer mit Graffiti beschmierten Mauer in einer Seitengasse der Market Street. Sein Kopf war nach vorn geneigt, das Kinn lag auf der Brust, die Hände umklammerten den Bauch. Auf der Vorderseite seines weißen Hemdes war ein Blutrinnsal hinabgeflossen.
Detective Chief Inspector Alan Banks stand im Regen und sah zu, wie Peter Darby Aufnahmen vom Tatort machte und die Blitzlichter die Regentropfen im Hinabfallen einfroren. Banks war verärgert. Von Rechts wegen hätte er gar nicht hier sein sollen. Im Regen um halb zwei Uhr in einer Samstagnacht.
Als wenn er nicht bereits genug Probleme hätte.
Der Anruf hatte ihn in dem Moment erreicht, als er durch die Tür gekommen war, nachdem er sich in Leeds allein eine Aufführung der Perlenfischerin der Opera North angeschaut hatte. Allein, weil seiner Frau Sandra am Mittwoch eingefallen war, dass sich die Benefizveranstaltung, deren Gastgeberin sie für das Eastvaler Gemeindezentrum sein sollte, mit ihrem Abonnement überschnitt. Da Sandra von Banks erwartet hatte, zugunsten ihrer Veranstaltung auf die Oper zu verzichten, war es zum Streit gekommen, sodass Banks am Ende ohne sie gegangen war. Dass die beiden ihrer eigenen Wege gingen, war in der letzten Zeit häufig vorgekommen, so häufig, dass Banks sich kaum noch erinnern konnte, wann sie das letzte Mal etwas gemeinsam unternommen hatten.
Die eingängige Melodie des Duetts »Au fond du temple saint« geisterte noch durch seinen Kopf, während er zuschaute, wie der junge Polizeiarzt Dr. Burns unter dem Zelt, das die Beamten der Spurensicherung über der Leiche errichtet hatten, mit seiner Vor-Ort-Untersuchung begann.
Police Constable Ford war während seines Streifenganges um elf Uhr siebenundvierzig am Tatort vorbeigekommen. Zuerst hatte er das Opfer lediglich für einen Betrunkenen gehalten, sagte er, der es nach der Sperrstunde nicht mehr bis nach Hause geschafft hatte. Immerhin lag eine zerbrochene Bierflasche auf dem Boden neben dem Jungen, er schien seinen Bauch zu halten und im Licht von Fords Taschenlampe hätte man das Blut leicht für Erbrochenes halten können.
Ford erzählte Banks, er wisse selbst nicht recht, was ihn schließlich ahnen ließ, dass er es nicht mit einem Betrunkenen zu tun hatte, der seinen Rausch ausschlief; möglicherweise war es die unnatürliche Reglosigkeit der Leiche gewesen. Oder die Stille: Er vernahm weder ein Schnarchen noch ein Zucken oder Murmeln, wie es bei Betrunkenen üblich ist, sondern nur die Stille unter dem Zischen und Prasseln des Regens. Nachdem er sich hingekniet und genauer nachgesehen hatte - nun, da war es ihm natürlich klar gewesen.
Bei der Gasse handelte es sich um einen kaum zwei Meter breiten Gang zwischen zwei Häuserreihen am Carlaw Place. Er wurde oft als Abkürzung zwischen der Market Street und dem westlichen Teil von East-vale benutzt. Jetzt hatten sich Schaulustige hinter dem Absperrband der Polizei am Eingang der Gasse versammelt; die meisten drängten sich unter Schirmen, unter den Regenmänteln stachen Pyjamaknöpfe hervor. In vielen Häusern entlang der Straße waren trotz der späten Stunde die Lichter angegangen. Mehrere uniformierte Beamte hatten sich auf der Suche nach jemandem, der etwas gesehen oder gehört hatte, unter die Menge gemischt oder klopften an Türen.
Die Mauern der Gasse boten etwas Schutz vor dem Regen, aber nicht viel. Banks spürte, wie das kalte Wasser seinen Nacken hinabtropfte. Er schlug den Kragen hoch. Es war Mitte Oktober, die Jahreszeit, in der das Wetter ständig zwischen warmen, nebligen, milden Tagen, die direkt Keats Versen entnommen zu sein schienen, und peitschenden orkanartigen Winden wechselte, die einem einen stechenden Regen ins Gesicht trieben, der dem Hagel aus Pfeilen glich, welche die Blefuskier auf Gulliver abgefeuert hatten.
Banks sah, wie Dr. Burns das Opfer auf die Seite drehte, die Hosen herunterzog und rektal die Körpertemperatur maß. Er hatte bereits selbst einen Blick auf die Leiche geworfen, und es schien, als hätte jemand den Jungen zu Tode geschlagen oder getreten. Das Gesicht war so schlimm zugerichtet worden, dass man kaum mehr sagen konnte, als dass es sich um einen jungen weißen Mann handelte. Sein Portemonnaie war verschwunden, ebenso Schlüssel oder Kleingeld oder was auch immer er in seinen Taschen gehabt hatte; und so gab es keinerlei Hinweis darauf, wer er war.
Wahrscheinlich hatte es als
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