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Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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aussehe.«
    »Wo ist der andere?«, fragte das Einhorn.
    Schmendrick krempelte seine Ärmel auf. »Mach dir wegen Rukh keine Sorgen. Ich habe ihm ein neues Rätsel aufgegeben, eins, das keine Lösung hat. Mag sein, er rührt sich niemals wieder.«
    Er sprach drei kantige Worte und schnalzte mit den Fingern. Der Käfig verschwand, und das Einhorn stand in einem Hain von Orangen- und Zitronenbäumen, Pfirsichen und Granatäpfeln, Mandeln und Akazien; die Erde unter seinen Hufen war frühlingsweich, und über ihm wölbte sich der Himmel. Sein Herz wurde leicht wie Rauch, und es spannte alle Kräfte an für einen gewaltigen Sprung in die süße Nacht. Aber dann ließ es die Sprungkraft ungenutzt erschlaffen, denn es wusste, dass die Gitter immer noch da waren, auch wenn es sie nicht sah. Es war zu alt, um sie zu vergessen.
    »Verzeih«, sagte Schmendrick irgendwo in der Dunkelheit. »Es hätte mir große Freude gemacht, wenn das die Zauberformel gewesen wäre, die dich befreit.«
    Er sang eine tiefe und kalte Melodie, und die seltsamen Bäume wehten davon wie Pusteblumenflaum. »Diese Formel ist viel wirksamer«, sagte er. »Die Gitter sind jetzt so mürb wie alter Käse, den ich zerbröckle und zerbrösle, so!« Er schnappte nach Luft und zog blitzschnell die Hände zurück. Von jedem seiner langen Finger tropfte Blut.
    »Ich muss mich in der Betonung geirrt haben«, sagte er heiser. Er steckte die Hände in seine Manteltaschen und gab sich Mühe, seine Stimme munter klingen zu lassen. »Manchmal geht es eben daneben!« Dann knirschten krustige Sprüche, und Schmendricks Hände zuckten durch die Luft. Aus dem Nichts hinkte etwas Graues und Grinsendes heran, bärenhaft, aber größer als irgendein Bär, und voll Eifer, den Käfig wie eine Nuss zu zerknacken und mit seinen Klauen Fetzen aus des Einhorns Fleisch zu reißen. Schmendrick befahl es in die Nacht zurück, doch es blieb.
    Das Einhorn floh in eine Ecke und senkte den Kopf. Da regte sich leise tönend die Harpyie in ihrem Käfig, und das graue Wesen wandte, was wohl sein Kopf war, und sah sie. Es gab einen heulenden, blubbernden Laut des Entsetzens von sich und war fort.
    Der Zauberer fluchte und zitterte. »Ich habe ihn schon einmal gerufen, vor langer Zeit. Damals bin ich auch nicht mit ihm fertiggeworden. Jetzt verdanken wir unser Leben der Harpyie, und vielleicht fordert sie es uns noch vor Tagesanbruch ab.« Er stand stumm da, zupfte an seinen verletzten Fingern und wartete darauf, dass das Einhorn etwas erwidere. »Ich will’s noch einmal versuchen«, sagte er schließlich. »Soll ich’s noch einmal versuchen?«
    Dem Einhorn kam es vor, als brodelte die Nacht noch immer an der Stelle, wo das graue Wesen verschwunden war. »Ja«, sagte es.
    Schmendrick holte tief Luft, spie dreimal aus und sprach Wörter, die wie Glockengeläut unterm Meer klangen. Er streute eine Handvoll Pulver über den Speichel, und lachte triumphierend, als das Gemisch mit einem lautlosen grünen Blitz verpuffte. Als das Licht erloschen war, sprach er drei weitere Worte. Sie klangen wie das Summen von Bienen, die auf dem Mond herumbrummen.
    Der Käfig schrumpfte. Das Einhorn konnte die Bewegung der Gitter nicht sehen, aber jedesmal, wenn Schmendrick »Nein! Ach, nein!« rief, hatte es weniger Platz. Schon konnte es sich nicht mehr umdrehen. Unerbittlich wie der Morgen oder die Flut rückten die Gitter näher, drohten es zu durchbohren, bis sie sein Herz einschließen und es für alle Zeiten als Gefangenen behalten würden. Als die von Schmendrick gerufene Kreatur grinsend herangekommen war, da hatte es nicht aufgeschrien, doch jetzt gab es einen Laut von sich. Einen Laut, der schwach und verzweifelt klang, aber ungebrochen.
    Schmendrick brachte die Eisenstangen zum Stehen; das Einhorn fand nie heraus, wie er das fertigbrachte. Die Gitter waren um Haaresbreite vor ihm zum Halten gekommen, doch konnte es jede einzelne Stange wie einen kalten Wind spüren, der vor Hunger miaute. Aber sie konnten es nicht erreichen.
    Dem Zauberer sanken die Arme. »Ich kann nicht mehr«, sagte er verzweifelt. »Das nächste Mal wird es mir vielleicht nicht gelingen…« Er ließ kläglich die Stimme sinken, und seine Augen sahen so niedergeschlagen aus wie seine Hände. »Die Hexe hat keinen Fehlgriff mit mir getan«, sagte er.
    »Gib nicht auf«, erwiderte das Einhorn. »Du bist mein Freund. Versuch’s noch einmal.«
    Aber Schmendrick, der trübselig lächelte, suchte in seinen Taschen nach etwas, das

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