Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
Vom Netzwerk:
eisernen Webrahmen auf und ab. Keinen Augenblick hielt sie inne, auch nicht, als das Einhorn rief: »Es ist wirklich ganz reizend, Arachne, aber Kunst ist es nicht!« Das neue Gewebe wehte wie Schnee von den Stangen herab.
    Dann brach der Wind los. Das Spinnennetz wehte an den Augen des Einhorns vorbei und davon. Die Harpyie begann mit den Flügeln zu schlagen, holte sich Kraft, wie eine mächtige, zurücklaufende Woge donnernd Sand und Wasser ins Meer zieht. Ein blutunterlaufener Mond brach hinter den Wolken hervor, und das Einhorn sah sie: golden und gigantisch, mit herabfließendem, feuerzüngelndem Haar und kalten, langsamen Schwingenschlägen, die den Käfig erschütterten. Die Harpyie lachte.
    Im Schatten des Einhornkäfigs knieten Rukh und Schmendrick. Der Zauberer hielt den schweren Schlüsselring umklammert. Rukh rieb sich den Kopf und blinzelte heftig. Ihre Gesichter waren angstverzerrt, denn sie starrten die aufsteigende Harpyie an, und in dem heftigen Wind suchte jeder beim anderen Halt. Er stieß sie so heftig gegeneinander, dass ihre Knochen krachten.
    Das Einhorn ging auf den Käfig der Harpyie zu. Schmendrick der Zauberer, der blass und winzig aussah, öffnete und schloss unaufhörlich den Mund, und das Einhorn wusste, was er rief, obwohl es ihn nicht hören konnte. »Sie wird dich töten! Sie wird dich töten! Lauf, du Tor, solange sie noch gefangen ist! Wenn du sie freilässt, wird sie dich töten!« Doch das Einhorn ging weiter, folgte dem Leuchten seines Hornes, bis es vor Celaeno der Dunklen stand.
    Eine Sekunde lang hingen die eisigen Schwingen reglos wie Wolken in der Luft, und die alten gelben Augen der Harpyie drangen in des Einhorns Herz und zogen es unwiderstehlich näher. ›Ich töte dich, wenn du mich befreist‹, sagten die Augen. ›Befreie mich!‹
    Das Einhorn senkte den Kopf, bis sein Horn das Schloss des Harpyienkäfigs berührte. Die Tür sprang nicht auf, die eisernen Stangen zerschmolzen nicht zu Sternenschein. Die Harpyie hob ihre Schwingen, und die vier Wände ihres Käfigs fielen langsam zur Seite und herab, wie die Blütenblätter einer großen Blume, die sich zur Nachtzeit öffnet. Und aus den Trümmern erblühte schrecklich und frei die Harpyie; sie schrie gellend, und ihr Haar schwang wie ein Schwert. Der Mond schrumpelte und floh.
    Das Einhorn hörte sich aufschreien, nicht vor Schrecken, sondern vor Erstaunen. »Oh, du bist wie ich!« Es bäumte sich freudig auf, um dem Stoß der Harpyie besser begegnen zu können, und sein Horn stieß kühn in den Sturm. Die Harpyie schoss herab, verfehlte ihr Ziel und schwang vorüber mit klirrenden Flügeln und heißem, stinkendem Atem. Feuer brannte über ihrem Haupt; das Einhorn sah sein Spiegelbild auf ihrer bronzenen Brust und fühlte zur gleichen Zeit, dass die Harpyie in seinem Glanz erstrahlte. Wie ein Doppelstern umkreisten sie einander, nichts Wirkliches gab es außer diesen beiden unter dem sich zusammenziehenden Himmel. Die Harpyie lachte entzückt, und ihre Augen wurden honigfarben. Das Einhorn sah, dass sie zum nächsten Stoß ansetzte.
    Die Harpyie legte die Flügel an und stürzte wie ein Stern – nicht auf das Einhorn, sondern über dieses hinaus, so dicht an ihm vorbei, dass eine Feder seine Schulter zum Bluten brachte. Funkelnde Krallen gierten nach Mammy Fortunas Herz; die streckte ihre eigenen klauenförmigen Hände aus, als wolle sie die Harpyie an die Brust schließen. »Nicht allein!«, heulte die Hexe triumphierend. »Niemals hättet ihr euch selbst befreien können! Ich hielt euch gebannt!« Dann war die Harpyie bei ihr, und Mammy Fortuna zerbrach wie ein Stück dürres Holz und fiel. Die Harpyie hockte auf ihr, entzog sie dem Blick; dann färbten sich die bronzenen Schwingen rot.
    Das Einhorn wandte sich ab. In der Nähe hörte es eine Kinderstimme rufen, es solle laufen, laufen. Schmendricks Augen waren tassengroß und leer, und sein Gesicht – schon vorher viel zu jung – fiel in sich zusammen und wurde vollends das eines Kindes. »Nein«, sagte das Einhorn, »komm mit mir.«
    Das Gurgeln und Schmatzen der Harpyie ließ die Knie des Zauberers wachsweich werden. Das Einhorn sagte zum zweiten Mal: »Komm mit mir«, und zusammen verließen sie die Mitternachtsmenagerie und gingen davon. Im Dunkel der Nacht waren die Augen des Einhorns für den Zauberer wie der Mond, weiß und kalt und uralt leuchteten sie ihm voran – in die Sicherheit oder in den Wahnsinn. Er folgte ihm, ohne sich ein einziges Mal

Weitere Kostenlose Bücher