Das letzte Experiment
Club, um mich wie verabredet mit dem Colonel zu treffen.
Der Jockey Club von Buenos Aires war besser als jeder Berliner oder Londoner Club. Drinnen gab es eine große Rundhalle im Empire-Stil,eine prächtige Marmorstatue der Göttin Diana und eine atemberaubende Treppe, die aussah wie das achte Weltwunder. Überall standen korinthische Säulen, verziert mit Ornamenten aus Onyx, Elfenbein und mehr Lapislazuli als in einer russisch-orthodoxen Kathedrale. Ich fand den Colonel in der Bücherei – obwohl die Bücherei des Jockey Club so wenig eine Bücherei war wie Rita Hayworth eine Schauspielerin. Es gab zwar reichlich Bücher, so viel stand fest, doch nahezu jeder Einband war mit ein klein wenig Gold verziert, sodass man das Gefühl hatte, eine lange vergessene Grabkammer im Tal der Könige zu betreten. Und einige Clubmitglieder gehörten eindeutig in ein Grab. Alte Männer mit einem Profil, wie man sie auf einem Tausend-Peso-Schein sah. Frauen waren in diesem Club nicht zugelassen. Niemand hätte etwas mit Frauen anzufangen gewusst im Buenos Aires Jockey Club.
Der Colonel legte das Buch beiseite, in dem er gelesen hatte. Ich setzte mich in den Sessel ihm gegenüber und nahm es neugierig zur Hand. Ich habe mich schon immer dafür interessiert, was Massenmörder lesen.
«
Martín Fierro
, von José Hernandez», sagte er. «Unser nationaler Poet. Kennen Sie das Buch?»
«Nein.»
«Dann schenke ich es Ihnen. Ich denke, es wird Ihnen gefallen. Es ist ein wenig romantisierend, doch ich bin sicher, dass Ihnen verschiedene Elemente sehr zusagen. Der Held ist ein verarmter Gaucho, der Haus, Hof, Frau und Familie verloren hat. Alles vernichtet. Er selbst gerät von einer Bredouille in die nächste. Messerkämpfe und andere brutale Auseinandersetzungen und verschiedene Angelegenheiten der Ehre. Am Ende wird Martín Fierro zum Gesetzlosen, der von Polizei und Miliz verfolgt wird.» Der Colonel lächelte. «Vielleicht kommt Ihnen diese Geschichte vertraut vor, Gunther. Das Buch ist hier in Argentinien jedenfalls sehr beliebt. Die meisten Kinder können schon in der Schule ganze Passagen aus
Martín Fierro
zitieren. Ich kenne es fast auswendig.»
«Schön für Sie.»
Der Colonel lächelte unmerklich. «Zum Geschäft», sagte er.
Er hatte eine Aktentasche neben sich stehen, auf die er für einen kurzen Moment die Hand legte. «Hier drin befinden sich einhunderttausend amerikanische Dollar. Fünfzigtausend von Evita und fünfzigtausend von von Bader. Außerdem ein argentinischer Pass auf den Namen Carlos Hausner. Diese Tasche gehört Ihnen, wenn Sie mir sagen, was ich wissen will. Den Aufenthaltsort von Fabienne von Bader. Ihr Versteck.»
«Nicht zu vergessen ihre Mutter», sagte ich. «Ilse von Bader. Ihre richtige Mutter. Nicht Evita Perón. Und ganz gewiss nicht Isabel Pekerman. Ist mir ein Rätsel, warum Sie diese Scharade aufgezogen haben.»
«Ursprünglich dachten wir, es würde das Gefühl für Dringlichkeit erhöhen, wenn Sie glaubten, dass nur das Mädchen verschwunden war. Ein junges Mädchen, das zusammen mit seiner Mutter weggeht, schwebt ja wohl kaum in so großer Gefahr, dass es dringend gefunden werden muss.»
«Zugegeben. Aber warum außerdem die Geschichte, dass Evita in Wirklichkeit Fabiennes Mutter ist?»
«Evita glaubt an das Zwischenmenschliche, wie Sie sich bestimmt erinnern werden. Sie dachte, ein persönlicher Appell von ihrer Seite würde Ihre Entschlossenheit verstärken, Fabienne zu finden.»
«Sie war sehr überzeugend», sagte ich. «Aber sie ist ja schließlich auch Schauspielerin. Was wird aus den beiden? Aus Ilse und Fabienne von Bader?»
«Sie werden hier in Buenos Aires festgehalten. In Sicherheit. Ich versichere Ihnen, dass den beiden kein Leid geschehen wird. Wie ich Ihnen bereits im Flugzeug sagte, von Bader ist der einzige der drei verbliebenen Treuhänder der Reichsbankkonten, der eine Familie hat. Deswegen ist er auch der einzige, den wir nach Zürich schicken können im Vertrauen, dass er tut, was wir von ihm verlangen, nämlich die Reichsbankkonten an die Peróns zu überschreiben.Ilse von Bader hatte Bedenken, dass ihre Tochter und sie selbst als Geiseln genommen werden könnten für die sichere Rückkehr ihres Mannes. Das ist der Grund, aus dem sie mitsamt ihrer Tochter verschwand. Was unsere Pläne mehr oder weniger undurchführbar machte. Wir konnten von Bader wohl kaum nach Zürich lassen ohne eine Garantie, dass er wieder zurückkommen würde.» Der Colonel zündete sich
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