Der Koenig von Rom
I.
Rom, Oktober 1976
Rauchend und mit gleichgültigem Blick lehnte er, wie jemand, der sich im Gefängnis zu Hause fühlt, an der Mauer, die bereits warm war von der Morgensonne.
Plötzlich entstand am anderen Ende des Hofs eine Schlägerei. Er lief nicht hin, um neugierig zuzusehen. Er rannte auch nicht in seine Zelle, um sich rauszuhalten. Es ging ihn einfach nichts an.
Wärter kamen gelaufen, schwangen Knüppel. Sirenen heulten. Er blieb an seinem Platz stehen, gleichgültig, versunken in seine Träume, die sich allmählich in Luft aufzulösen drohten.
Doch da warf sich der blutüberströmte Junge plötzlich winselnd vor ihm auf den Boden, und der Riese, der ihn verfolgte, hob einen spitzen Metallsplitter, um ihm den Gnadenstoß zu versetzen.
Er erkannte den Jungen. Er begriff, dass ihm das Schicksal in diesem Augenblick eine große Chance bot, vielleicht die letzte, und mit einer blitzartigen Bewegung fing er den Arm des Angreifers auf halber Höhe ab.
Der Riese sah den kräftigen, dunkelhäutigen, nicht sehr großen Burschen mit dem struppigen Bart und den kalten Augen verdutzt an. Dann versuchte er ihm einen Kniestoß zu geben.
Das war ein Fehler.
Der Bursche war geschickt, mit bloßen Händen und mit dem Messer. Das hatte er bereits als Kind gelernt, von einer gnadenlosen Lehrmeisterin: der Straße. Wo man auf den ersten Blick kapiert, ob der Gegner ein Lamm oder ein Löwe ist. Ob er dazu bestimmt ist zu leben oder zu sterben. Er wich dem Hieb aus und verpasste dem Riesen einen Kopfstoß. Knochen krachten und splitterten, der andere griff sich mit den Händen an die Nase und ließ die Waffe fallen. Er legte noch einen Tritt in die Eier nach. Der andere ging zu Boden. Er packte den Metallsplitter, setzte sich rittlings auf seine Brust und hielt ihm die Spitze an den Hals.
Als der andere versuchte ihn abzuwerfen, stach er ihn ganz leicht, nur damit er verstand, dass er es ernst meinte.
– Wer bist du?
– Ich bin Libanese, antwortete er leise, fast flüsternd. Merk dir den Namen.
Da stürzten sich die Wärter von hinten auf ihn und prügelten ihn, bis er ohnmächtig wurde.
Auf der Krankenstation wachte er auf.
Ärzte wieselten um sein Bett herum. Der Wärter entschuldigte sich dafür, dass er ihn mit einem Bösewicht aus einem Film verwechselt hatte. Der Direktor lobte ihn dafür, dass er ein wertvolles Menschenleben gerettet hatte.
Er lächelte alle an, gab zu verstehen, dass er Ruhe benötigte, und sie ließen ihn in Frieden.
Libanese war fünfundzwanzig Jahre alt, er trug einen Kampfnamen, den bislang nur wenige, zu wenige, kannten, und er hatte eine fixe Idee.
Er wollte König von Rom werden.
Er war wegen Waffenbesitz festgenommen worden, und im Knast hatte er sich sofort an die Arbeit gemacht. Im Knast entstanden manchmal große Dinge.
Die Camorra diktierte die Gesetze, die Römer senkten demütig das Haupt. Die Römer schliefen. Er hatte die Aufgabe, sie aufzuwecken. Er hatte das Terrain sondiert: bei einem Dealer aus Tufello, einem Bankräuber aus Borgo Pio, einem jungen Einbrecher von der Borghesiana und einem Kredithai von der Piazza del Fico.
Keine Chance.
Solange er herumgeschwafelt hatte, hatten sie zugehört, hatten sogar Interesse an den Tag gelegt. Ja, gewiss, Rom is’ nicht mehr wie früher … hier funktioniert nichts mehr … wir sind nicht mehr die Herren im eigenen Haus … man müsste sich was einfallen lassen. Aber kaum wurde er konkret, bekamen sie Schiss. Was? Ein Plan? Eine Organisation? Aber wir sind schon organisiert. Jeder hat seine Truppe, das reicht, denn in Rom sind zwei schon eine Gruppe, und drei sind eine Menge. Was hast du dir in den Kopf gesetzt, Libano? Willst es im großen Stil versuchen? Willst eine Bande gründen? Das ist eine Nummer zu groß für dich. Und außerdem arbeitet ja bereits Terribile im großen Stil. Doch, warum nicht.
Die Römer waren keine Gruppe, keine Seilschaft, gar nichts. Und er, der sie einigen wollte, der sie zu entschlossenen und unbesiegbaren Bandenmitgliedern machen wollte, war bloß ein Träumer.
Libanese hatte sich klein und unsichtbar gefühlt. Er hatte zu zweifeln begonnen. Er hatte sich ernsthaft überlegt, sein Leben zu ändern. Eine Arbeit zu suchen, zu heiraten.
Vielleicht war das doch eine Nummer zu groß für einen, der in den Gassen von Trastevere geboren und aufgewachsen war.
Vielleicht wollte Rom wirklich keinen König, weil Rom selbst keine Königin mehr war. Rom war bloß eine alte müde Hure, die ihren
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