Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Getränk süß, warm und tröstlich. Auch Erik Florin klammerte sich dankbar an die dickwandige Tasse. Theo selbst verabscheute das Gebräu. Er war ein bekennender Kaffeejunkie.
Neugierig blickte Florin sich um. Im Kamin flackerte ein Feuer, vor dem zwei schwere braune Chesterfieldsessel standen, die diskret nach altem Leder und Pfeifentabak dufteten. Theos Vater hatte ein Faible für britisches Ambiente gehabt. Die preußischblau gestrichenen Wände waren fast vollständig mit Regalen zugestellt, in denen sich Hunderte Bücher stapelten. Zu seiner Verblüffung erspähte Florin neben einer ehrwürdigen, in Leder gebundenen Gesamtausgabe der Encyclopædia Britannica aus dem Jahre 1923 auch uralte Seefahrerchroniken und medizinische Fachliteratur jüngeren Datums.
Darüber hinaus gab es auch hanseatische Requisiten. In einer mit Samt ausgeschlagenen Vitrine schimmerten geheimnisvoll nautische Instrumente: ein Kompass, ein Sextant, ein Chronometer. In einer anderen Ecke des Raums stand ein altes Hafenmeisterteleskop, das Theo von seinem Urgroßvater, einem Kapitän, geerbt hatte.
Nachdem der alte Käpt’n Matthies 1926 in den Ruhestand gegangen war, hatte er angefangen, Seebestattungen für pensionierte Seeleute zu organisieren. Es hatte viele gegeben, die sich nach einem Leben auf dem Meer wünschten, dort auch ihre letze Ruhe zu finden – Beginn einer Bestatterdynastie in der nunmehr vierten Generation. Lange Zeit hatte es allerdings so ausgesehen, als ob die Tradition mit Theos Vater enden sollte.
Als kleiner Junge hatte Theo noch unbekümmert zwischen den Särgen Verstecken gespielt. Doch das änderte sich schlagartig mit dem Tod seiner Mutter. Von einem Tag auf den anderen war sie fort gewesen. Aufgebahrt im Sarg lag nur noch eine wächserne Puppe, die nicht das Geringste mit seiner Mama zu tun hatte. Ihm kam es vor, als hätte jemand seine Mutter verschleppt und stattdessen dieses Ding dagelassen. Verzweifelt hatte er getobt und geheult. Er wollte seine Mama zurück. Sein Vater hatte ihn auf den Schoß gezogen und den Achtjährigen behutsam hin und her gewiegt. Zornig hatte sich Theo gesträubt. »Warum ist sie einfach weg? Warum?!«
»Es war ein Unfall«, hatte sein Vater hilflos gesagt. »So etwas passiert einfach manchmal.« Von da an war der Junge auf den Tod nicht mehr gut zu sprechen gewesen. Theo wollte keine Toten begraben, Theo wollte Leben retten.
Nach dem Medizinstudium hatte er verbissen um jeden Patienten gerungen, der auf seinen OP-Tisch kam. Bis zu jener Nacht vor drei Jahren, in der er gleich zwei geliebte Menschen auf einmal verloren hatte. Der Tod lässt sich nur auf Abstand halten, auf Dauer besiegen lässt er sich nicht, hatte Theo schließlich akzeptieren müssen und erkannt, dass er den Arztberuf aus dem falschen Motiv heraus gewählt hatte: ein sinnloser Kampf gegen das Unabänderliche. So hatte er beschlossen, doch noch Bestatter zu werden. Sich dem Sterben zu stellen. Inzwischen war er sogar fast sicher, die richtige Wahl getroffen zu haben. Als Bestatter, so hoffte er, würde er irgendwann Frieden mit dem Tod schließen. Manchmal gelang es ihm inzwischen. Oft genug aber auch nicht.
So saß er heute hinter dem Eichholzschreibtisch seines Vaters – ein Umstand, der ihn mitunter noch immer verblüffte. Die Platte des hundert Jahre alten Möbels war mit grünem, inzwischen etwas fleckigem Leder überzogen, in dem Theo je nach Stimmung wechselnde Figuren sah. Die unregelmäßigen Konturen des großen, leicht rötlichen Flecks links oben erinnerten ihn heute an ein tanzendes Nilpferd. Der Familienlegende nach hatte sein Vater ihn hinterlassen, als er aus Freude über die Geburt seines Sohnes die unvermeidliche Teetasse umgestoßen hatte.
»Ich möchte, dass Sie sich um die Beerdigung kümmern.« Erik Florin schob Theo einen schmuddeligen Zettel zu, der aussah, als hätte er ihn seit Wochen mit sich herumgetragen. »Anna Florin, geb. 15.06.1925, gest. 11.12.2008« stand darauf. Darüber prangte in großen Lettern »Gerichtsmedizin«.
»Man hat sie also obduziert«, stellte Theo fest.
»Der, äh, Fundort war ein wenig ungewöhnlich«, erklärte Florin.
Donnerstag, 11. Dezember 2008
Am frühen Morgen des elften Dezembers war Heide Jensch, 65, zu ihrer morgendlichen Runde aufgebrochen. Trotz des plötzlichen Temperatursturzes der letzten Tage hatte sie sich auf ihr klappriges Hollandrad geschwungen. Ihre beiden irischen Wolfshunde, Carla und Cleo, trabten geschmeidig neben ihr her.
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