Engelsfluch
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Rom, Donnerstag, 17. September
»Und so ist heute das vielleicht größte Unglück über die katholische Kirche hereingebrochen, das man sich überhaupt vorstellen kann. Eine Ungeheuerlichkeit, wie sie seit vielen Jahrhunderten nicht mehr vorgekommen ist. Wenn wir den Begriff Schisma hören, denken wir an das Mittelalter und an Avignon. Aber ab heute hat das Wort eine neue, ganz aktuelle Bedeutung. Die katholische Kirche ist nicht mehr das, was sie bis gestern noch war. Sie hat sich in zwei eigenständige Kirchen aufgespaltet!«
Giovanni Dottesio saß gebannt vor dem Fernseher. Das Glas Rotwein und der Teller, auf dem ein mit Schinken und Rucola belegtes Weißbrot lag, standen unberührt auf dem Tisch. Wie es seine Gewohnheit war, hatte er beim Hinsetzen nach der Fernbedienung gegriffen und den Apparat angeschaltet, um sich die Abendnachrichten anzusehen. Er hatte nichts Besonderes erwartet, nur die üblichen Katastrophen. Ein abgestürztes Flugzeug hier, eine Massenkarambolage dort und irgendwo auf der Welt ein schlimmes Bombenattentat – all die Ereignisse, die im einundzwanzigsten Jahrhundert normal waren und bei denen dennoch die Betroffenen, selbst wenn sie nicht gläubig waren, ihre Zweifel an Gott anmeldeten. Stirnrunzelnd hatte Dottesio zur Kenntnis genommen, dass statt der gewohnten Nachrichtensendung ein Sonderbericht lief. Mitten auf dem Petersplatz stand ein Reporter im offenen Mantel und sprach so hastig ins Mikrofon, als befürchte er, mit den aktuellen Ereignissen nicht Schritt halten zu können. »Noch liegt uns keine Bestätigung aus dem Vatikan zu dieser Meldung vor. Aber die Presseerklärung seitens der neu gegründeten« – der Reporter zog mit der linken Hand einen Zettel hervor und warf einen kurzen Blick darauf – »Heiligen Kirche des Wahren Glaubens lässt keinen Zweifel aufkommen. Teile der Kirche, die vom kleinen Dorfpfarrer mit seiner Gemeinde bis hin zu einflussreichen Kardinälen reichen, haben sich vom Vatikan, vom Papst, losgesagt. Im Vatikan scheint man davon selbst überrascht, wie die Aufregung rund um mich herum zeigt.«
Die Kamera zoomte zurück und präsentierte Dutzende von Fahrzeugen, zivile Limousinen und Taxis, die vor den Toren des Vatikans kirchliche Würdenträger ausspuckten. Männer in Soutanen und in dunklen Anzügen mit weißen Römerkragen durften nach kurzer Kontrolle durch die Wachtposten der Schweizergarde passieren und eilten fast im Laufschritt weiter.
Dottesio erkannte einige der Gesichter, die nur kurz in die Kamera blickten, weil die Kardinäle und ihre Begleiter zu einem Kommentar nicht bereit und vielleicht auch nicht befugt waren.
Kein Zweifel, die Häupter der Kirche strömten im Zentrum des Katholizismus zusammen. Ein Auftrieb, wie er ihn sonst allenfalls von der Wahl eines neuen Papstes gewohnt war.
Natürlich hatte ein kleiner Pfarrer aus Trastevere mit den hohen kirchlichen Würdenträgern kaum etwas zu schaffen. Aber Dottesio kannte sie noch aus seiner Zeit im Vatikan.
Auf dem Fernsehschirm erschien wieder der Reporter. »Noch ist nicht klar, wie der Vatikan auf das Schisma reagieren wird.
Es sieht nicht so aus, als würde sich hier in den nächsten Minuten etwas tun. Aber natürlich bleiben wir für Sie vor Ort und am Ball. Ich gebe jetzt erst einmal zurück ins Studio zu Norina.«
Norina trug zu ihrer dunkelroten Löwenmähne ein grünes Kostüm, das nicht so recht mit dem gelben Hintergrund des Fernsehstudios harmonieren wollte. Der Titel der Sondersendung wurde am unteren Bildrand eingeblendet: »Krise im Vatikan – die Kirche ist gespalten.« Die Moderatorin lächelte, als habe der Reporter soeben drei Tage Sonnenschein angekündigt, und sagte: »Roberto wird uns auf dem Laufenden halten. Sobald sich im Vatikan etwas Wichtiges ereignet, schalten wir sofort zu ihm. Zunächst aber will ich die überraschende Entwicklung einer Kirchenspaltung mit zwei Gästen erörtern, deren Kompetenz in Sachen Vatikan und Kirche niemand bestreiten kann.«
Die beiden Gäste wurden eingeblendet, ein Mann und eine Frau, beide noch jung an Jahren. Dottesio erkannte sie, sobald er ihre Gesichter sah. Kein Wunder, waren ihre Bilder doch einige Monate zuvor durch die römische Presse gegangen wie sonst nur die von Fernseh- oder Fußballstars. Die beiden waren in das verwickelt gewesen, was ein Vatikanist in einem Zeitungskommentar als die größte Krise bezeichnet hatte, die der katholischen Kirche in der Neuzeit widerfahren war. Damit hatte der
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