Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
zweifelhafte Charme maroder Jugendstilhäuser. Seit einigen Jahren wurden die heruntergekommenen Prachtbauten Stück für Stück saniert. 2013 sollte die Internationale Bauausstellung IBA in Wilhelmsburg stattfinden. Zuvor hieß es, die Schandflecken der Elbinsel von Grund auf zu sanieren oder alles abzureißen und neu zu bauen. Und so glänzte hier manches Haus in frischem Anstrich, während gegenüber noch der Putz von den Fassaden bröckelte. Theo beobachtete die Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Einerseits freute es ihn, dass der Hamburger Senat sich überhaupt einmal bequemte, dem Stadtteil Beachtung zu schenken. Andererseits fürchtete er, dass damit viel vom Charme des Viertels verloren gehen würde.
Über einer Toreinfahrt kündete ein altmodisch verschnörkeltes Schild von »Hansens Raritäten und Haushaltsauflösungen«.
»Bleiben Sie ruhig sitzen, ich hol nur eben den Chef, dann können Sie sich die Wohnung Ihrer Mutter gemeinsam anschauen.«
Im Hinterhof türmte sich ein abenteuerliches Sammelsurium aus alten Schubkarren, gusseisernen Gartenpforten und anderen rostigen Artefakten. Eine Marmornixe blickte traurig auf ihren Krug, aus dem schon lange kein Wasser mehr geflossen war. Fröstelnd zog Theo den Mantel um sich. Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Auf einer kirschrot gestrichenen Gartenbank saß sein Freund Lars und schmauchte ein Pfeifchen. Mit seinen langen dünnen Gliedmaßen, dem zerzausten Blondschopf und der Hornbrille sah er eher wie ein armer Poet aus als wie ein Entrümpelungsunternehmer – ein Eindruck, der nicht völlig täuschte, war er doch Doktor der Philosophie. Neben ihm hockte eine Gestalt von ausnehmender Hässlichkeit. Unter der tief gefurchten Stirn traten ein Paar traurige Glotzaugen hervor, die Nase war platt wie die eines Preisboxers, und der runde Kopf mündete übergangslos in einen stämmigen Körper. »Das ist Paul-Mops«, stellte Lars dem Freund seinen neuen Begleiter vor.
Theo streckte die Hand zur Begrüßung aus, und sogleich verwandelte sich die jammervolle Erscheinung in ein begeistert schnaufendes, freudig bebendes Bündel.
»Entzückend«, sagte Theo und kraulte dem sandfarbenen Hund vorsichtig den Schädel. Paul grinste.
»Ich hab ihn letztens gewissermaßen mitentrümpelt«, erklärte Lars. »Offenbar hatten es die Enkel so eilig, ihre Oma ins Altersheim zu verfrachten, dass sie den armen Kerl glatt vergessen haben.« Zum Glück schien Paul um einiges cleverer zu sein, als seine niedrige Stirn vermuten ließ. Irgendwie hatte er es geschafft, mit seinen dicken Pfoten den Wasserhahn in der Küche aufzudrehen, sodass er nicht verdurstet war. Abgesehen davon musste ihn ein erhebliches Übergewicht gerettet haben, das er sich vermutlich dank der liebevollen Fürsorge seines alten Frauchens angefuttert hatte. Nach vierzehn Tagen Fastenkur war Paul so schlank wie seit Jahren nicht und so gut in Form wie nie.
»Und jetzt hast du ihn adoptiert«, stellte Theo fest. Sein bester Freund sammelte beschädigte Objekte wie andere Menschen Briefmarken: Biedermeierbüsten ohne Nase, dreibeinige Stühle und Teekannen ohne Henkel – und natürlich Menschen und Tiere mit seelischem Knacks. Möbel und zerbrochenes Geschirr verwandelte er mit viel Phantasie, Kleber und Farbe in begehrte Kleinkunstwerke, auf Mensch und Tier entfaltete seine stoische Gelassenheit eine heilsame Wirkung. Theo war vollkommen klar, dass auch er Teil des Hansenschen Kuriositätenkabinetts war.
»Kundschaft für dich«, sagte Theo und deutete mit dem Daumen über die Schulter.
»Na, denn man to.« Lars klemmte sich den stämmigen Hundekörper unter den Arm.
»Haben Sie was dagegen, wenn der kleine Kerl hier mitkommt?«, fragte er, am Wagen angekommen.
Erik Florin starrte irritiert in das faltige Hundegesicht. Paul sabberte.
»Der Kleine hat gerade sein Frauchen verloren und ist noch etwas verstört«, säuselte Lars. Paul glotzte, nieste herzhaft und sah nicht im Mindesten traumatisiert aus.
Minuten später parkte Theo den Citroën vor Ismails Dönershop am Busbahnhof. Wie Lars hatte auch Anna im Herzen des Wilhelmsburger Multikultiviertels gewohnt. Vor dem schmucken, denkmalgeschützten »Alten Deichhaus« saßen ein paar Arbeitslose verschiedenster Nationalitäten in der Wintersonne.
»Am wohlsten hat sie sich immer da gefühlt, wo es laut und bunt ist«, erklärte Florin. Dunkelhaarige Mädchen mit Hosen unter den Röckchen schoben blonde Puppen in ihren Spielzeugkinderwagen
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