Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Stimme klang, als hauste eine ganze Froschfamilie in seinem Kehlkopf.
Kapitel 3
Ein vager Verdacht
Sonntag, 14. Dezember 2008
Mit energischen Bewegungen massierte Theo die Hände der alten Frau. Zum Teil versteifte noch ein Rest Totenstarre die Finger. Er löste sie, indem er die Gelenke ihren natürlichen Bewegungsabläufen folgend bewegte. Dabei konnte er spüren, wie die verklebten Muskelfasern aufbrachen. Seit vier Tagen war Anna Florin nun tot. Wie bei vielen betagten Menschen spannte sich über die alten Knochen wenig Muskulatur, weshalb die Totenstarre nur schwach ausgeprägt war.
Theo hatte es in seinem Beruf als Bestatter schon mit ganz anderen Fällen zu tun gehabt. Da war der sportliche Mittvierziger gewesen, den ein Herzinfarkt beim Joggen dahingerafft hatte. Das körpereigene Adenosintriphosphat, das als Weichmacher in der Muskulatur wirkt, war durch die Anstrengung weitgehend verbraucht gewesen. So hatte die Leichenstarre nach wenigen Minuten und nicht erst Stunden nach dem Tod eingesetzt. Der Mann war in einer grotesken Position erstarrt gewesen, Arme und Beine standen sperrig in alle Himmelsrichtungen ab, und es war zunächst kaum möglich gewesen, den Körper in einem Leichensack zu verstauen, geschweige denn in einem Sarg. Selbst der Sportstudent Kurti, der im Bestattungsinstitut gern als Sargträger aushalf, hatte die zu Stein erstarrte Muskulatur erst einen Tag später lösen können.
Theo betrachtete seine Klientin. Die alte Frau lag ausgestreckt auf der Bahre. Ihre Brüste waren winzig und schmiegten sich flach an ihren Brustkorb. Unter der Haut zeichneten sich die Rippenbögen ab. Auf dem kalten Stahl sah sie ungeheuer verletzlich aus.
Unter den Fingernägeln schimmerte die Haut blauviolett: Livores – Totenflecken, die sich überall dort sammeln, wo das Blut im Körper nach unten sackt.
Er umfasste ihren Hinterkopf und öffnete ihren Mund. Mithilfe einer langen Pinzette schob er Watte tief in Annas Schlund. Die Watte kaufte er stets im Friseurbedarf. Eigentlich war sie dafür gedacht, tropfende Haarfarbe aufzufangen. Die langen, schlangenförmigen Gebilde waren ideal, um die Körperöffnungen zu verschließen – eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine Aufbahrung.
Anschließend griff Theo nach einer großen Rundnadel, um Annas Mund zu vernähen. Ohne diesen handwerklichen Kniff sank der Kiefer nach unten, sobald die Totenstarre nachließ. Er führte die Nadel unterhalb von Annas Kinn ein und vernähte den Mund unsichtbar von innen.
Die Pinzetten, die Einmalhandschuhe, der blassgrüne OP-Kittel, vor allem der allgegenwärtige Geruch von Desinfektionsmittel – zwischen seiner alten und seiner neuen Arbeit gab es viele Parallelen, dachte er oft. Der geschickte Umgang mit Nadel und Faden kam ihm auch in seinem jetzigen Beruf zugute.
Kaum jemand hatte seine Entscheidung, seine Karriere als Chirurg hinzuwerfen, nachvollziehen können. Theos Chef, Prof. Dr. Jürgens, hatte gesagt: »Kommen Sie wieder, wenn Sie Ihre Krise überwunden haben. Unsere Tür steht Ihnen jederzeit offen.«
Sogar sein Vater, der eigentlich hätte froh sein müssen, dass Theo doch den Familienbetrieb weiterführen wollte, hatte kopfschüttelnd gesagt: »Ein Medizinstudium wirft man nicht einfach so weg.« Bis zu seinem tödlichen Schlaganfall vor etwas mehr als zwei Jahren hatte der alte Matthies damit gerechnet, dass sein Sohn sich besinnen und wieder der Medizin zuwenden würde. Aber Theo war schon immer stur gewesen.
Aus seinem früheren Leben hatte er die Angewohnheit beibehalten, während der Arbeit Musik zu hören. Heute hatte er die »Shanghai Divas« aufgelegt – eine CD mit melancholischen Liedern aus den mondänen Schanghaier Nachtclubs der 30er-Jahre. Während eine vermutlich längst verstorbene Chinesin ein wehmütiges Lied von verlorener Liebe sang, kleidete er Annas Leichnam an. Unterwäsche, einen dunkelvioletten Rollkragenpullover mit skandinavischem Rautenmuster und eine moosgrüne Hose. Das waren noch die dezentesten Stücke gewesen, die Erik aus dem kuriosen Sammelsurium gefischt hatte, das Anna Florins Kleiderschrank beherbergte. »Übertriebene Eitelkeit konnte man ihr wirklich nicht vorwerfen«, hatte Erik verlegen ob der mangelnden Eleganz gesagt.
Theo rollte den schlichten Kiefernsarg, der auf einem Gestell bereitgestanden hatte, neben den Arbeitstisch. Routiniert schob er zwei Gurte unter Annas Körper, die in einem schwenkbaren Kran befestigt waren. So konnte er die
Weitere Kostenlose Bücher