Drachenland: Roman (German Edition)
1
Es war schon spät am Morgen, als Johan, Sohn des Jondalrun, am Rand des Kliffs stand und auf die Meerenge von Balomar hinausblickte. Er strich sich die feuchten blonden Locken aus der Stirn und schirmte seine Augen gegen das Sonnenlicht ab. Johan war müde. Er hatte bereits vor Beginn der Morgendämmerung mit dem Aufstieg begonnen und auf seinem Weg über die Hügel zur nördlichen Steilküste die Schwinge vorsichtig durchs Gestrüpp getragen. Trotz aller Sorgfalt waren die straffe Lederbespannung und der Holzrahmen der Schwinge von Brombeerzweigen und scharfkantigen Felsen zerkratzt worden. Das letzte Stück des Aufstiegs war am steilsten, und der Wind vom Meer her hatte die Schwinge springen und bocken lassen wie einen Hengst. Aber Johan hatte durchgehalten. Er war entschlossen, an diesem Tag zu fliegen, und nichts würde ihn davon abhalten.
Nachdem er die Schwinge sorgfältig verankert hatte, setzte er sich auf einen großen Felsblock. Er aß eine Nektarine aus dem Garten seines Vaters und blickte hinauf zu den lockeren Wolken über ihm.
Er war ein Bauernsohn, jung, aber kräftig und geschmeidig. Während der Wind mit seinem Haar spielte, schlang Johan die Arme um sich vor lauter Freude über seine eigene Kühnheit; außerdem war die Frühlingsluft noch kühl in Fandora. Sein Vater würde zornig sein. Sich zum Vergnügen in Gefahr zu begeben war töricht, war etwas, was man nur in Simbala tat. Aber Johan hatte eines wunderschönen Morgens Amsel über ebensolchen Wolken schweben sehen, hoch oben wie die Drachen aus der Sage, und da wusste er, dass Fliegen viel mehr war als ein Vergnügen und gewiss das Risiko wert.
Die Schwinge zu holen war leicht gewesen. Der Riesenbaum, der einen Teil von Amsels Haus bildete, erhob sich am Rande der Bergebene, der Mesa, und seine mächtigen oberen Äste befanden sich auf einer Höhe mit dem Rand des Kliffs. Johan war einfach in den Baum gestiegen, zu der Verzweigung hinuntergeklettert, wo die Schwinge aufbewahrt wurde, und hatte mit der Schwinge den Baum auf demselben Weg wieder verlassen. Es sollte ja nur dieses eine Mal sein, und er würde sich bei Amsel entschuldigen, wenn er ihm später die Schwinge zurückbrachte.
Er hatte sich jetzt ausgeruht, alle Nektarinen waren gegessen, und der Zeitpunkt zum Fliegen war gekommen. Johan trug die Schwinge an den Rand des Kliffs. Ein Falke segelte tief unter ihm dicht an der Felswand vorbei, ohne die Flügel zu bewegen. Warte auf mich, Falke, dachte Johan, ich werde dir zeigen, wie man fliegt.
Hart am Abgrund richtete er jetzt die Schwinge sorgfältig gegen den Wind. Als das Leder im Aufwind schlug und knatterte, ergriff er die Steuerstange unter dem Rahmen und schob seine Füße in die langen Schlaufen, wie Amsel es ihm einmal gezeigt hatte. Dann stand er da und blickte auf das Meer tief unter ihm. Zum ersten Mal wurde er von kalter Angst ergriffen. Wenn nun das Fliegen gar nicht so leicht war, wie es aussah? Aber jetzt war es zu spät. Das Gewicht des Rahmens zog ihn nach vorn, und er konnte nur noch mit den Füßen nachschieben und aus einem plötzlichen Absturz einen ungeschickten Sprung machen. Die Seeluft schlug ihm entgegen, und er schrie vor Entsetzen auf. Er stürzte ab! Amsels Erfindung hatte versagt, und Johan betete, dass er nicht sterben müsse. Mit fest geschlossenen Augen drehte er sich verzweifelt hin und her, und nach einer Ewigkeit spürte er, dass sich unter dem ledernen Segel Luft fing. Plötzlich fiel er nicht mehr, sondern stieg. Er öffnete die Augen: Eine Wolke empörter Möwen stob um ihn herum auseinander und protestierte gegen sein Eindringen. Er flog!
Vom lachenden Wind in der Höhe gehalten, experimentierte Johan mit dem Gewicht seines Körpers und lernte die Gesetze des Fliegens. Er lernte sie mühelos, während er über dem Wasser dahinglitt. Welch reine Schönheit! Johan hatte in den acht Jahren seines Lebens kaum etwas anderes als Pflügen und Säen, Eggen und Ernten kennengelernt. Das hier war völlig neu, es war wunderbar! Süße Luft füllte seine Lunge und explodierte dann in einem Ruf des Entzückens auf seinen Lippen, während er hinunterstieß und Kreise zog.
Als die erste Begeisterung verklungen war, fing Johan an, die Landschaft unten zu studieren. Er schwebte in einem beständigen Aufwind genau über den senkrecht emporragenden Klippen. Die Straße von Balomar trennte sein Land, Fandora, von der verschwommenen purpurnen Küstenlinie im Osten. Hinter den Nebelschleiern über
Weitere Kostenlose Bücher